„Du erkennst uns noch?“ fragte Pia.
„Aber natürlich! Auch wenn ihr ein kleines Stückchen älter geworden seid, würde ich doch nie die Menschen-Kinder vergessen, die damals so überrascht waren, als sie erfuhren das Bäume reden können.“
„Ja, damals wussten wir noch nicht sehr viel,“ erwiderte Benjamin. „Aber jetzt sind wir immerhin 20 Jahre älter und einiges erfahrener.“
Die Lindenfrau trat nun ganz aus ihrem Baum heraus und alle musterten sie beeindruckt. Sie war mehrere Meter gross, trug ein lindengrünes Gewand und dazu eine Haube aus zart duftenden Lindenblüten.
„Es freut mich sehr euch wiederzusehen. Ich nehme an, ihr seid auf dem Weg zum Waldvolk?“
„Ja, das stimmt.“
„Sie werden bestimmt froh sein, euch zu sehen. Es hat sich einiges verändert und vieles ist passiert. Auch wir Bäume bekommen das zu spüren. Es sind grosse Umwälzungen im Gange, denn einige meine Baumgeschwister sterben auf einmal ab, als ob sie eine Seuche heimgesucht hätte.“
„Wir haben auch mit einer Seuche zu kämpfen,“ sprach Pia besorgt. „Hungoloz hier war ebenfalls erkrankt, aber wir haben zum Glück ein Heilmittel gefunden. Es geht das Gerücht, dass für die Seuche ein dämonischer, schwarzer Ritter verantwortlich ist.“
„Ja, davon habe ich ebenfalls gehört.“
„Hast du womöglich auch schon von diesem Waldelfen- Rebellen Darkuloz gehört, der in der Gegend neuerdings sein Unwesen treibt?“ wollte Hungoloz wissen.
„Leider ja,“ erwiderte der Baumgeist, „Vielleicht hat ja sogar er etwas mit diesen seltsamen Vorkommnissen zu tun. Er ist mir jedenfalls überhaupt nicht geheuer.“
„Du hast ihn also schon mal gesehen?“
„Ja, ab und zu kommen er und seine Schergen hier vorbei. Irgendwo im westlichen Wald müssen sie ihr Lager haben.“
„Vielen Dank für die Auskunft. Jetzt wissen wir gleich etwas mehr!“
„Ich helfe gerne, denn ich sehe ja, was diese Seuche mit den Menschen, sowie mit den Bäumen macht,“ erwiderte die Lindenfrau bekümmert. „Es könnte auch mich jederzeit treffen.“
„Daran darfst du nicht einmal denken!“ rief Pia.
„Es ist schwierig das nicht zu tun, wenn man stets die Wehklagen der eigenen Geschwister vernehmen muss, die um ihr Leben kämpfen. Ihr müsst wissen, die Bäume hier im Wald, sind durch ein riesiges, unterirdisches Netzwerk von Wurzeln und Pilzen verbunden. Wir kriegen darum immer mit, wenn es einem anderen Baum nicht gut geht, oder er sogar stirbt. Sein Schmerz wird dadurch zum Schmerz aller.“ „Das ist sehr traurig,“ meinte Benjamin bekümmert. „Vielleicht könnte die Medizin, die wir gegen die Seuche, welche die humanoiden Völker heimsucht, gefunden haben, auch den Bäumen helfen. Sie wurde aus den seltenen Feuerblumen hergestellt.“
„Von so etwas wie Feuerblumen habe ich noch nie gehört,“ erwiderte die Lindenfrau.
„Sie wachsen nur an ganz heissen Orten und wir haben daraus einen Trank angefertigt. Freunde von uns arbeiten jedoch gerade an einer noch wirkungsvolleren Tinktur. Ich hoffe die Herstellung wird erfolgreich.“
"Es wäre natürlich wunderbar, wenn eure Medizin auch meinen Baumgeschwistern helfen könnte. Vielleicht könnt ihr sie ja mal bei einem erkrankten Baum ausprobieren!“ „Ja, das werden wir tun,“ versprach Hungoloz. „Nun müssen wir aber leider weiter, mein Volk braucht uns dringend!“
„Das verstehe ich gut! Du bist zum Führer ausersehen, junger Elfenfürst. Ich wünsche euch viel Glück, bei euren weiteren Missionen.“ Sie wandte sich nochmals lächelnd an Pia und Benjamin „und euch herzlichen Dank, für euren Besuch! Es ist schön, dass ihr an mich gedacht habt.“
„Ist doch klar!“ erwiderte Pia. „Wenn wir schon mal wieder in der Gegend sind. Es hat ja lange genug gedauert, bis wir zurück ins Märchenreich kamen.“
Die Lindenfrau lächelte verschmitzt und hob nochmals ihre runzlige, hellgrüne Hand zum Abschied. Dann trat sie zurück in den Baum und war sogleich wieder mit ihm verschmolzen.
Die Freunde wandten sich um und setzten ihren Weg nachdenklich fort.
Sehr bald kamen sie an jenem malerischen Gewässer vorbei, das von der Nymphe Miowa bewohnt wurde. „Besteht der Frieden zwischen der Herrin des Teichs und eurem Volk noch?“ fragte Benjamin an die Waldelfen gewandt. Tartaloz erwiderte: „Ja, seit unser Stamm ihr einen neuen Schmuck angefertigt hat, um sie zu besänftigen, ist Miowa jetzt immer freundlich zu uns gewesen. Wir können nun ohne Angst in ihrem Weiher baden. Das haben wir euch zu verdanken!“
„Das ist allerdings wahr!“ sprach Hungoloz und schaute lächelnd zu Pia herüber. Dies wandte sich erneut verlegen ab.
Als der Abend dämmerte und sein purpurgoldenes Licht über die Waldlandschaft warf, erblickten die Freunde in der Ferne endlich die ersten Baumhäuser von Hunoloz‘ Heimatdorf. Hier hatte sich wirklich vieles verändert! Eine hohe Bretterwand, umsäumte nun das Dorf und überall standen Bäume, deren Zweige abgestorben und schwarz in den Himmel ragten. Kein Blatt mehr schmückte sie, es war still und ein Hauch von Kälte, lag in der Luft. Die Reisenden blickten sich erschüttert um. „So viele tote Bäume…!“ flüsterte Pia „Es ist furchtbar!“
Tartaloz nickte bekümmert. „Ja, es ist wirklich sehr traurig! Wir konnten bisher nichts gegen dieses Baumsterben tun. Ich hoffe sehr eure Medizin hilft den noch lebenden Baumbestand zu erhalten.“
„Aber… bisher haben wir noch viel zu wenig von der Medizin,“ sprach Pia. „Wir müssen neue machen. Doch das braucht etwas Zeit. Schauen wir, dass wir schnell ins Dorf kommen!“ Sie wollte einen hastigen Schritt nach vorne machen, doch Tartaloz hielt sie zurück: „Aufpassen, da befindet sich eine Fallgrube. Nicht dass du mir noch hinein fällst!“
„Eine Fallgrube!“ rief Hungoloz erschrocken. „Aber, so etwas haben wir noch nie gebraucht.“
„Als die verschiedenen Stämme noch in Frieden zusammengelebt haben, war das auch noch nicht der Fall. Doch die Zeiten haben sich leider geändert.“
„So schlimm ist es schon?“ fragte Hungoloz erschüttert.
„Ja, leider. Darum mussten wir auch die Bretterwände aufstellen. Folgt mir einfach auf den Fuss, dann passiert euch nichts.“
Tartaloz und der andere Elf gingen voraus und Hungoloz und die Geschwister folgten ihnen vorsichtig.
Als sie am Tor des Dorfes anlangten, klopfte Tartaloz mit seinem Schwertgriff dagegen und rief: „Aufmachen! Ich bin es Tartaloz! Ich habe Hungoloz und die Grossen Führer mitgebracht!“
Eine Weile blieb es still, dann öffnete sich ein kleines, vergittertes Fenster in der Mitte der Pforte und ein, grimmig dreinblickender Waldelf, mittleren Alters, linste heraus.
Als er Tartaloz und Hungoloz jedoch erkannte, erhellte sich seine Miene sogleich und er rief laut: „Tartaloz und unser Fürst sind tatsächlich mit den Turner Geschwistern zurückgekehrt! Kommt alle her!“
Dann wandte er sich freundlich an die Reisenden und sprach: „Ich werde euch gleich hereinlassen.“ Ein grosser Schlüssel wurde im Schloss gedreht und dann öffnete sich die Pforte einen Spalt weit. „Schnell rein!“ flüsterte der Pförtner und schloss das Tor gleich wieder hinter ihnen.
„Es ist gefährlich heutzutage. Einiges an unliebsamem Gesindel treibt zur Zeit sein Unwesen in der Gegend.“