Die Entrückung beginnt!
Hungoloz war sehr besorgt. Seitdem Pia und Benjamin sich von ihm verabschiedet hatten, um sich in das dunkle Reich des Obislav zu begeben, hatte er nichts mehr von ihnen gehört und das war nun schon eine ganze Weile her. In ihm war eine schreckliche Unruhe, eine Unruhe, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Er hatte das Gefühl, dass seine Liebste sich diesmal einer ganz besonders grossen Gefahr aussetzte. Dass sie sich bisher nicht gemeldet hatte, bestärkte ihn nur noch in diesen Befürchtungen. Er hoffte innständig, dass wenigstens Malek rechtzeitig aus seinem Heimatreich zurückgekehrt war, um den Geschwistern beizustehen.
Die Sorge um Pia und auch die anderen, nagte an dem Waldelfen und deshalb brauchte er immer sehr lange, um am Abend Ruhe zu finden. Meistens wanderte er dann noch, bis tief in die Nacht hinein, durch die Flure und Hallen des Kristallschlosses und versuchte sein rasend klopfendes Herz zu beruhigen. In dieser Nacht war es besonders schlimm gewesen und er hatte kaum Schlaf gefunden. Nun fühlte er sich erschlagen und sein Gemüt war erfüllt von Melancholie.
Als bereits der erste matte Schein am Horizont, den anbrechenden Morgen ankündigte, beschloss er, sich noch etwas hinaus auf die Terrasse zu setzen, um die aufgehende Sonne zu begrüssen. Das hatte immer so etwas Tröstliches und es kam dem Waldelfen dann vor, als würde das zunehmende Licht ihm neue Hoffnung und neue Zuversicht schenken.
Es gab einige sehr bequeme Sessel auf der Terrasse und in einen davon, liess er sich nun fallen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, fielen seine Augen schliesslich doch zu und er nickte ein.
Eine aufgeregte Stimme riss ihn jedoch, kurz darauf, wieder aus seinem Schlaf und etwas verwirrt blickte er sich um. Vor ihm stand Aliya die junge Sylphe. Sie deutete aufgeregt hinauf in den Himmel und rief. „Schau! Eine unserer Städte ist jetzt endlich aufgetaucht! Siehst du sie?“
Hungoloz rieb sich die Augen und tatsächlich! Ganz hoch oben an dem, von goldrotem Licht durchwebten Himmel, schwebte tatsächlich eine wunderschöne Stadt mit weissen Türmen und goldenen Dächern. Der Waldelf sprang auf. „Ja, ich sehe sie. Was um alles in der Welt, hat das zu bedeuten?!“
„Mein Volk ist gekommen, um jene abzuholen, die bereit sind. Schau, sie schickten bereits ihre fliegenden Schiffe. Eins kommt direkt auf das Kristallschloss zu. Meine Artgenossen wollen dich bestimmt abholen.“
„Mich abholen? Was soll das heissen? Und was ist mit den anderen?“
„Jene, welche die Stadt sehen können werden nun entrückt werden, wenn sie bereit dazu sind.“
„Entrückt?“
„Ja, in die eigens dafür vorgesehen Himmelsstädte! Diese Stadt dort oben, ist einer der Zufluchtsorte, von denen ich gesprochen habe.“
„Aber… ich kann doch nicht einfach weggehen. Man braucht mich hier und ich Waldreich noch.“
„Die meisten aus dem Waldreich und auch dem Kristallreich, werden mit dir entrückt werden. Es ist an der Zeit, denn schon bald wird eine grosse Wehe die Welten heimsuchen.“
„Aber… was geschieht mit meiner Familie und meinen Freunden?“
„Auch sie werden abgeholt werden.“
„Und was ist mit Pia?“
„Sie und Benjamin haben noch ein paar Dinge zu erledigen.“
„Was denn für Dinge?“
„Das weiss ich auch nicht genau. Doch ich und meine Mütter sind vor allem hier, um dir und den Leuten des Kristallreiches beizustehen und ihnen den Übergang in die Himmelsstädte zu erleichtern. Eigentlich ist das der Grund unseres Hierseins.“
„Ihr sagtet doch, dass ihr hier seid, um Wissen mit uns auszutauschen und dass du in einigen Dingen unterwiesen werden wolltest.“
„Das war ein Vorwand. Denn wie du vielleicht bereits vermutet hast, bin ich älter als es den Anschein macht.“ Mit diesen Worten verwandelte sich Aliya, vor den Augen des Waldelfen, in eine ausgewachsene Sylphe.
„Das ist eigentlich meine wahre Gestalt,“ meinte sie.
„Dann habt ihr uns also die ganze Zeit angelogen und du bist gar keine Teenagerin, die Unterweisung sucht?“
„Nein, nicht wirklich.“
„Was ist mit deinen sogenannten Müttern? Sind sie wirklich deine Mütter?“
„Im übertragenen Sinne schon. Sie sind schon einiges älter und erfahrener als ich und kümmern sich hauptsächlich um mich.
Allerdings betrachten wir Sylphen einander gegenseitig sonst eher als Schwestern. Nur die alte Windfrau wird von uns als Mutter gesehen. Man nennt sie deshalb auch die Mutter der vier Winde. Jetzt mach dich aber bereit! Du wirst bald abgeholt.“
„Ich weiss wirklich nicht, ob ich hier schon weggehen kann.“
„Und darum sind wir hier. Meine Schwestern und ich haben den klaren Auftrag erhalten, dich auf jeden Fall in Sicherheit zu bringen.
Denn du bist der Liebste der Grossen Führerin. Auch Sara wird bald abgeholt. Die hohen Wesen ahnten, wohl, dass du dich schwer damit tun würdest, deine Heimatwelt zu verlassen. Darum bin ich hier. Komm! Es wird Zeit!“
Noch immer zögerte Hungoloz, denn er war noch immer nicht ganz wach und es fiel ihm schwer, so schnell eine so wichtige Entscheidung zu treffen. Doch Aliya war gnadenlos. Sie ergriff den Arm des Waldelfen und zog ihn resolut hinter sich her.
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Fast zur selben Zeit, tauchte auch über dem Juwelenreich eine weitere der weissen Städte, diesmal aber mit türkisen Dächern, auf.
Sara sass gerade mit Magdalena beim Frühstück, als sie aus dem Fenster blickte und die magische Erscheinung am Himmel sah. „Was ist das?“ fragte sie voller Erstaunen an ihre Tante gewandt.
Magdalena blickte nun ebenfalls aus dem Fenster und sprach: „Da… ist eine Stadt. Eine Stadt im Himmel! Aber… wie ist so etwas überhaupt möglich?“
„Keine Ahnung. Wir sollten es der Königsfamilie melden, vielleicht wissen sie mehr.“
Die beiden Frauen rafften ihre Röcke zusammen und begaben sich in die königlichen Gemächer. Schon bald fanden sie die Königsfamilie im goldenen Salon vor, wo diese ebenfalls gerade das Frühstück zu sich nahmen. Magdalena ging voraus und meinte: „Entschuldig die Störung, aber Sara und ich haben gerade etwas sehr Ungewöhnliches am Himmel entdeckt. Ihr solltest mal aus dem Fenster blicken!“
Nofrete ging als erste zur Fensterbrüstung und ihre Augen wurden gross: „Da ist… eine Stadt, im Himmel. Aber…, woher kommt die auf einmal?“
„Das haben wir uns auch gerade gefragt,“ gab Sara zur Antwort.
„Ihr habt recht, da ist tatsächlich eine Stadt!“ rief Ismala und auch Damian schien die ungewöhnliche Erscheinung zu sehen.
„Da sind fliegende Schiffe!“ rief er. „Einige von ihnen steuern direkt auf unser Schloss zu! Wir sollten hinausgehen und diese seltsamen Besucher erst einmal empfangen.“
Auf der grossen, für alle Schlossbewohner zugängliche Terrasse, welche direkt den Blick auf die wundervollen Gärten unter ihnen freigab, fanden sich die Freunde ein. Auch viele andere Leute, waren bereits hier und schauten nun mit weit offenen Mündern und Augen in den Himmel. Die weissen Schiffe, mit den weissen Segeln, landeten nun, eins nach dem anderen, auf der Terrasse. Wunderschöne, zierliche Wesen mit schleierartigen Gewändern und strahlenden Augen, stiegen aus und gingen, mit schwebenden Schritten, auf die Königsfamilie und Sara zu.
„Es wird Zeit für euch, mit uns zu kommen. Wir werden euch in die türkise Himmelsstadt bringen.“
„Ihr wollt uns fortbringen?“ frage Damian. Aber… wir können doch nicht einfach von hier weg.“
„Natürlich ist es schlussendlich eure eigene Entscheidung. Allerdings wird bald eine grosse Wehe die Welten heimsuchen und dann wärt ihr in den Himmelsstädten sicher.“
Aufgeregtes Gemurmel lief durch die Menge der anwesenden Personen, von denen scheinbar alle die Stadt sehen konnten.
Rufe wurden laut wie: „Was hat das zu bedeuten?“
„Von was für einer Wehe, sprechen diese leuchtenden Wesen?“
„Werden wir bald sterben?“
Damian hob seine Hand, um die Menge zum Schweigen anzuhalten und sprach dann an die wundersamen Wesen gewandt: „Was meint ihr damit und wer seid ihr überhaupt?“
„Ich glaube… sie sind Luftgeister Vater,“ sprach Nofrete. „Malek berichtete schon öfters von ihnen.“
„Aber warum sollten die Töchter der Luft uns von hier wegbringen wollen?“ „Weil diese Aufgabe uns von den höheren Wesen zugeteilt wurde,“ erklärte eine der Sylphen. „Eigens für diesen Zweck haben wir in den vergangen Jahrzehnten all die Himmelsstädte erbaut.“
„Es gibt noch mehr von diesen… Himmelsstädten?“
„Ja, noch Duzende mehr. Sie erscheinen nun, nach und nach, über allen Welten.“
„Auch Benjamin hat mal von so etwas gesprochen,“ erinnerte sich Sara.
„Er sah damals, wie seine Eltern in so eine Himmelsstadt gebracht wurden, und er meinte, dass wir wohl auch bald abgeholt werden. Wie es aussieht, ist es nun so weit.“
Wieder erhob sich Gemurmel unter dem anwesenden Volk.
„Aber wir können unser Reich nicht einfach so im Stich lassen,“ gab Damian zu bedenken. „Wenigstens sollte ich hierbleiben.“
Er zog seine Frau und Nofrete etwas zur Seite und meinte leise: „Geht ihr beide voraus. Ich werde vorerst hierbleiben.“
„Aber… wir können dich nicht allein zurücklassen!“ protestierte Nofrete. „Wir brauchen dich Vater! Bitte sei vernünftig und komm mit uns!“
„Das… kann ich nicht. Ich muss mich weiterhin um jene kümmern, die noch nicht so weit sind. Es würde mich jedoch sehr beruhigen, wenn ich euch wenigstens in Sicherheit wüsste und all die anderen, welche die Stadt bereits sehen können.“
„Es wird jedoch eine Weile dauern, bis wir zurückkehren können,“ meinte eine der Sylphen, an den König gewandt. „Mein Mann kann also später nicht mehr zu uns stossen?“ wollte Ismala besorgt wissen.
„Doch natürlich, aber es könnte gefährlich für ihn werden, denn das Böse wird jetzt immer mehr entfesselt und die Welten werden von den Kreaturen der Finsternis heimgesucht werden. Auch das Juwelenreich wird nicht davon verschont bleiben. Allerdings bleiben wir weiterhin in Bereitschaft und Damian kann uns jederzeit kontaktieren.“
Die Sylphe reichte dem König nun einen hellblauen, länglichen Topas, der oben etwas zugespitzt war.
„Ich hoffe du findest den richtigen Moment ihn zu benutzen, bevor es wirklich zu spät ist.“
Damian nickte zustimmend und drückte seine Frau und seine Tochter noch einmal fest an sich. Sie alle hatten nun Tränen in den Augen, doch die beiden Frauen wussten, dass sich der König nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde.
„Nun geht aber!“ meinte Damian. „Eure Sicherheit ist mir das Allerdwichtigste. Schon bald werde ich euch ebenfalls folgen. Ich verspreche es!“
Die beiden Frauen nickten zutiefst betrübt, dann folgten sie den Sylphen, zusammen mit Sara, Magdalena und den anderen, zu den leuchtenden Luftschiffen.
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Überall tauchten nun auch in anderen Welten und Reichen die Luftschiffe und die dazugehörigen Himmelsstädte auf und die meisten liessen sich von den Sylphen in deren Reich bringen. Viele der Ergnomen wurden entrückt, ebenso Zyklopus der freundliche Riese mit seiner Frau und einige andere, vereinzelten Riesen. Ebenso viele des Waldelfenvolkes, darunter, neben Hungoloz, auch Tartaloz . Sebius der Zwergen- Seher mit seiner kleinen Tochter Lumnije, Sturmius und viele weitere Zwerge folgten ebenfalls deren Beispiel, sowie viele der Trolle, darunter auch Triandra, Trion und viele mehr. Und sie alle, traten ihre Reise mit gemischten Gefühlen an, denn natürlich fragten sie sich, was aus all jenen werden würde die noch zurückblieben...