Michas schwere Entscheidung
Einen Moment lang waren Micha und seine Begleiter wie erstarrt.
Der Drache öffnete nun erneut sein schreckliches Maul und stiess seinen todbringenden Atem aus. Er verfehlte die Reiter nur knapp.
„Rückzug!“ rief Pete. „Sofort!“
„Aber… ich kann doch nicht zulassen, dass dieses Monster das Schloss und unser Dorf angreift!“ erwiderte Micha und konnte sich einfach nicht dazu entschliessen, den anderen zu folgen. Sein Pferd tänzelte unruhig hin und her und wieherte ängstlich. Der Junge packte erneut seinen Speer und wollte sich gerade ein zweites Mal dem schrecklichen Todesschatten stellen, als es auf einmal strahlend hell um ihn herum wurde!
Micha blickte erstaunt nach oben. Über ihm schwebte ein silbernes Schiff mit weissen Segeln!
An Bord erblickte er mehrere Sylphen, die nun anfingen einen Zauber zu wirken. Wie aus dem Nichts, entstand ein Wirbelsturm, der nun auf den schrecklichen Drachen zuraste. Dieser wurde davon ergriffen und in die Luft gerissen. Er brüllte und heulte, versuchte irgendwo Halt zu finden. Doch der Wirbelsturm war unerbittlich und trug das schreckliche Monster weit, weit davon. Die Sylphen beendeten schliesslich ihren Zauber wieder und ihre strahlenden Augen richteten sich nun auf den 16- jährigen. Erneut war dieser gefesselt von deren Anmut und Schönheit. Auch Pete und die andern, starrten ungläubig auf das herrliche Schauspiel.
Das Schiff landete nun vor Micha und zwei der Luftgeister stiegen aus. Anmutigen Schrittes kamen sie auf ihn und dessen erstaunte Begleiter zu, aus ihrem Inneren leuchtete ein helles Licht. „Da kamen wir ja gerade zur rechten Zeit,“ sprach eine von ihnen. „Du hast wirklich grossen Mut bewiesen, Micha- Drachentöter!“
„Ach was, ich denke nicht, das dieser Name zu mir passt!“ meinte Petes Sohn. „Es war nie meine Absicht, ständig gegen Drachen zu kämpfen.“ „Und doch, bist du sehr gut darin.“
„Wohl doch nicht gut genug, sonst wäre dieser… Todesschatten doch nicht wieder aufgestanden.“
„Da konntest du nichts dazu. Todesschatten sind nun mal untote Drachen und stammen aus einer uralten, dunklen Zeit, in der Nekromantie noch sehr aktiv betrieben wurde. Eigentlich galten sie als nahezu austgestorben, denn lange wurde aktiv Jagd auf sie betrieben. Man kann einen Todesschatten jedoch nur richtig töten, indem man ihm den Kopf abschlägt. Das ist bei den meisten untoten Kreaturen so.“
„Aber… ist er dann auch wirklich tot? Kann er dann nicht noch einmal zurückkehren.“
„Nein. Dafür haben wir schon gesorgt.“
„Aber warum ist er überhaupt hier aufgetaucht, wenn diese Drachenrasse eigentlich als ausgestorben gilt?“
„Er muss von irgenjemandem mit grossen, magischen Kräften herbeigerufen worden sein. Dieser hat scheinbar Interesse daran, das Reich hier zu zerstören.“
„Aber… ich habe von diesem Drachen geträumt bevor… nun ja, bevor er uns angegriffen hat.“
„Dann ist er vielleicht auch deinetwegen gekommen,“ meinten die Sylphen ernst.
„Meintetwegen? Aber warum sollte so ein schreckliches Monstrum so etwas tun?“
„Das weiss man nie so genau. Irgendwelche böse Mächte, die in dir eine Gefahr sehen… vielleicht eine besondere Prüfung deiner Fähigkeiten oder… womöglich gar, um es dir leichter zu machen, mit uns zu kommen?“ „Was meint ihr damit?“
„Eigentlich sind wir da, um dich mit in unser Reich zu nehmen.“
„Warum solltet ihr das tun?“
„Weil du einer von jenen bist, die von dieser Welt entrückt werden sollen. Ebenso wie deine Familie und viele andere.“
„Das verstehe ich nicht. Ich muss doch hierbleiben, um Malek zu vertreten.“ „Malek wird zu gegebenen Zeit darüber informiert werden, dass du und deine Familie entrückt wurden.“
„Aber wird denn unser ganzes Volk entrückt werden?“
„Nur jene, die das da oben sehen können.“ Die Sylphen deuteten zu den naheliegenden Hügeln herüber und erst jetzt entdeckte Micha die leuchtende, schwebende Stadt, die dort plötzlich aufgetaucht war.
Auch Pete, der sein Pferd nun neben jenes seines Sohnes gelenkt hatte, sah sie.
„Da… ist eine Stadt!“ rief er. „Was bedeutet das?“
„Das ist eine der sogenannten Himmelsstädte. Sie dienen als Zufluch für jene, die bereit sind, einen Evolutionsschritt zu machen.“
„Einen Evolutionsschritt, inwiefern?“
„Wie ihr bereits wisst, werden alle Welten von grossen Umwälzungen heimgesucht. Bald wird es überall immer gefährlicher werden. Das hat das plötzliche Auftauchen des Todesschattens ebenfalls bestätigt. Doch es gibt jene, die schon jetzt bereit sind, für die neue Welt, die danach kommen wird.“
„Aber, was wird dann aus jenen, die noch nicht so weit sind?“
„Auch sie werden noch Zeit haben, sich zu entwickeln. Allerdings werden sie vorerst hier unten bleiben müssen. Denn so lange sie die Himmelsstädte nicht wahrnehmen, können sie diese auch nicht betreten.“
„Dann bleibe ich hier!“ sprach Micha sofort. „Es ist meine Pflicht, mich um die Zurückgebliebenen zu kümmern!“
„Dein Pflichtbewusstsein ehrt dich, Micha- Drachentöter. Natürlich ist das deine freie Entscheidung. Die Himmelsstadt wird jedoch nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden und dann könnte es eine Weile dauern, bis du nochmals die Möglichkeit erhältst, dorthin zu gelangen.“
Der rothaarige Junge spürte die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. „Geh mit ihnen, mein Sohn! Ich werde hier die Stellung, so lange wie möglich, halten.“
„Aber das geht nicht. Man braucht mich hier. Wenn jetzt nochmals so ein Drachen daherkommt, was dann?“
„Diesmal werden wir besser vorbereitet sein. Wenn Malek dann zurückkehrt, werde ich dir, deinem Bruder und deiner Mutter folgen.“
„Wir sollen dich allein hierlassen? Nein, das geht nicht!“
„Bitte tut es. Für mich. Ich möchte dich und auch den Rest der Familie in Sicherheit wissen.“
Micha senkte den Kopf und rang sichtlich mit sich. Noch einmal beschwor ihn sein Vater jedoch: „Bitte geh! Du hast das ganze Leben noch vor dir. Da oben wirst du in Sicherheit sein. Das würde mich sehr beruhigen.“
Tränen liefen dem Jungen nun über die Wangen. „Aber Papa,“ versuchte er noch einmal zu widersprechen.
Doch Petes Blick war so ernst und eindringlich, dass er schliesslich gehorchte.
„Also gut. Aber… ich werde alles von da oben im Auge behalten.“ „Natürlich wirst du das,“ erwiderte Pete und an seiner erstickten Stimmen merkte man, dass auch er mit den Tränen zu kämpfen hatte. Er umarmte seinen Sohn noch einmal, dann wendete er sein Pferd und ritt zurück zum Schloss um seiner restlichen Familie Bescheid zu geben. Micha blickte ihm traurig hinterher, dann folgte er den Sylphen auf das leuchtende Schiff...