Nach einer eher unruhigen Nacht, stand Sebius als Erster auf, machte alles für die Reise bereit und nachdem er, zusammen mit seinen Begleitern, ein kleines Frühstück zu sich genommen hatte, machten sich die vier wieder auf den Weg, Richtung Berge.
Ziemlich bald liessen sie den Wald, den sie tags zuvor durchquert hatten, hinter sich und kurz darauf, erreichten sie ziemlich wildes, unebenes Gelände, voller Geröll und Steine.
Fleischige, baumähnliche Pflanzen wuchsen hier. Sie besassen herzförmige Blätter und braune Früchte, welche mit einem roten Kelch ummantelt waren.
„Diese Pflanzen, nennt man übrigens Zwergenbäume,“ erklärte Sebius. Er nahm lächelnd eine der Früchte in die Hand und drehte sie so, dass sich der rote Kelch oben befand. Die braune, runde Frucht wirkte nun wie das Haupt eines Zwerges mit einer roten Mütze. Die Zwergenbaum- Früchte sind mit ihrem leckeren, nussigen Geschmack, eine beliebte Zutat für verschiedenste Speisen,“ fuhr der Zwerg fort. „Wir könnten einige von ihnen für später sammeln. Sie schmecken euch bestimmt!“
So sammelten er und die anderen, einige der besonderen Früchte ein und gingen danach weiter.
Das Geschenk der Erdmutter
Sie redeten nicht viel und hielten immer wieder nach irgendwelchen Lebenszeichen des Greifs Ausschau. „Da vorne sollte jetzt bald der Geburtshügel auftauchen!“ rief der zwergische Seher und sein Herz klopfte auf einmal aufgeregt.
Und tatsächlich! Kurz darauf, kamen die Freunde auf eine kleine Alm und im Zentrum dieser Alm, befand sich ein grosser, kegelförmiger Erdhügel. Rundherum lagen verschiedenste Gaben, welche von Zwergenpilgern hier, als Geschenke für die Erdmutter, niedergelegt worden waren. Auch einige Utensilien für das grosse Erdmutterfest, das kurz bevorstand, befanden sich bereits hier.
Wie immer, wenn er diesen geheiligten Ort betrat, fühlte Sebius tiefe Ehrfurcht in sich aufsteigen. Er faltete andächtig die Hände und verharrte, einen Moment lang, in ein stilles Gebet vertieft. Die anderen drei, taten es ihm nach und sie alle fühlten deutlich die wundervolle Schwingung, welche hier an diesem geheiligten Ort herrschte.
Auf einmal jedoch geschah etwas Unerwartetes!
Die Spitze des Erdhügels, geriet urplötzlich in Bewegung! Die Erde türmte sich, fast wie Magma auf und gleich darauf, stand eine wunderschöne Frau, mit einem braunen Samtkleid und gleichfarbigen, langen Locken vor ihnen! Edle Stickereien schmückten den Brustteil ihres Gewandes und mit sanften, grossen Reh- Augen, blickte sie Sebius und seine Begleiter an. Alle schauten fassungslos auf die eigentümliche Erscheinung. „Oh grosse Erdmutter! Kann das wahrhaft sein?“ stotterte Sebius, ganz erschlagen von der Anmut der wundervollen Dame. Diese lächelte nur und sprach mit samtiger Stimme: „Ja, es kann!“
„Aber… du zeigst dich doch sonst nie, vor allem nicht ausserhalb des Erdmutter- Festes!“ stotterte der Zwerg.
Er trat vor die Dame hin, sank auf die Knie und küsste hingebungsvoll ihre weichen Hände.
Die Geschwister und Malek stellten fest, dass die Erdmutter nicht grösser als Sebius war. Handelte es sich wohl tatsächlich um jene allererste
Ur- Zwergin, welche von ihrem damaligen, männlichen Pendant zu wenig gewürdigt worden war? Sie blickten auf ihren Zwergen- Freund. Dieser war so tief bewegt, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Die Dame zog ihn jedoch wieder sanft, aber bestimmt, auf die Füsse zurück und wischte ihm liebevoll seine Tränen ab.
„Du musst nicht vor mir knien!“ lächelte sie.
„Aber du bist doch unser aller Mutter. Ich kann gar nicht glauben, dass ich so eine grosse Gnade erfahre, dich unter so ungewöhnlichen Umständen zu erblicken.“
„Du bist eben etwas ganz Besonderes, mein lieber Sebius. Du bist jener, den ich auserwählt habe, zusammen mit mir, ein neues Zeitalter einzuläuten.“
„Wie meinst du das?“
„Ich werde diesmal einen ganz besonderen Bund mit dir eingehen. Einen Bund, den es noch niemals zuvor gab.“
„Was für einen Bund denn?“ Sebius Herz klopfte nun noch heftiger.
„Du kennst doch das übliche Ritual?“ Der Zwerg nickte zustimmend.
Die Dame, nahm nun einen langen Dorn hervor und sprach: „Komm näher und reich mir deine rechte Hand!“
„Aber die Umgebung ist noch gar nicht für das heilige Ritual vorbereitet!“ wendete Sebius ein.
Die Erdmutter lächelte erneut. „Ach mein lieber Sebius, ich kann jederzeit gebären und ich brauche keinen geweihten Hügel, keine geweihte Erde, um das zu tun. So gib mir nun deine Hand!“
„Aber wie bloss komme ich zu dieser Ehre?“ fragte Sebius.
„Du bist der Auserwählte!“
„Der… Auserwählte?!“ echote Sebius und blickte etwas hilfesuchend zu seinen drei Freunden herüber.
Diese lächelten ihm aufmunternd zu.
Die Erdmutter nickte den dreien kurz zu und sprach wohlwollend. „Die Grossen Führer und der ehrwürdige Malek, sind genau die richtigen Zeugen für den Bund, den du und ich heute eingehen werden,“ sprach sie dann.
„Aber… von was für einem Bund, redest du da bloss?“
„Das wirst du gleich sehen!“ gab die Mutter der Erde ein wenig ungeduldig zur Antwort. „Jetzt streck deine Hand aus!“
Der Zwerg zögerte noch einen kurzen Moment, doch dann, gehorche er.
Die Dame stach ihm nun kurz in den Finger, dann tat sie bei sich dasselbe. „Aber was machst du da?“ protestierte Sebius erneut. „Das ist doch bisher noch nie so gewesen!“
„Es ist auch nicht so, wie es immer war, mein lieber Sohn. Und nun gib mir deine Hand, damit sich unser Blut vereinigen kann!“
Der Zwerg war noch immer etwas schwer von Begriff.
Doch die Dame nahm nun einfach seine Hand und umschlang sie mit ihren Fingern, sodass sich ihr Blut mit seinem vermischte.
In diesem Augenblick durchfuhr es den Zwerg wie ein Blitz! Noch nie hatte er so ein Gefühl gehabt! Er spürte wie er und die Erdmutter, für einen kurzen Moment, irgendwie Eins wurden und keuchte dabei auf. Gleich darauf löste die Dame jedoch ihren Griff wieder.
„Was ist… geschehen?“
„Du hast jetzt mit mir den Grundstein für eine ganz neue Ära gelegt! Ich werde nun in der Erde zurückkehren und gebären. Hab noch etwas Geduld, etwas Grosses steht bevor!“
Sebius war wie vom Donner gerührt und starte auf den Erdhügel, mit dem die Erdmutter nun wieder verschmolzen war. Er und auch seine Begleiter, konnte sich nicht abwenden und harrten gebannt der Dinge, die da kommen würden.
Der Seher schaute immer wieder fassungslos auf seine noch immer leicht blutende Hand und noch immer glaubte er die Berührung des mächtigen Erdgeistes zu spüren.
Die Wunde fühlte sich dabei an wie ein Brandmahl, dass sich nicht nur in sein Fleisch, sondern auch in seine Seele eingebrannt hatte. „Ich kann es einfach nicht glauben,“ stammelte er. „Wie kann es sein, dass mich unser aller Mutter, für so ein besonderes Ritual auswählt. Ich bin… doch nur ein einfacher Zwerg.“
„Vielleicht gerade, weil du dich selbst als einen einfachen Zwerg siehst, wurdest du von ihr ausgezeichnet,“ meinte Benjamin. „Was sie wohl mit der neuen Ära, die anbricht, gemeint hat?“
„Das wüsste ich auch gerne!“ rief Sebius und ging nervös vor dem Erdhügel auf und ab.
„Dieses Ritual… es war ganz anders als alle Bisherigen. Sonst lassen wir unser Blut einfach auf den Erdhügel tropfen und meistens zeigt sich die Erdmutter dabei nicht einmal.
Dass sie ihr eigenes Blut mit meinem Blut vermischt hat… ist… Oh beim grossen Schöpfer…! Ich finde gar keine Worte dafür! Ich…“
„Warten wir doch erst einmal ab,“ sprach Malek. „Das alles hat bestimmt seine Richtigkeit.“ Er drückte den Arm des Sehers und meinte: „Du solltest dich jetzt etwas beruhigen. So wie es aussieht, bist du für etwas Grosses auserwählt worden. Du solltest dich freuen!“
Bestimmt wird die Erdmutter dir bald alle Antworten auf deine Fragen geben.
Tatsächlich tauchte die Erdmutter kurz darauf wieder auf! In ihren Armen trug sie liebevoll ein Zwergen Baby. „So nimm denn deine Tochter entgegen, Auserwählter!“ rief sie feierlich.
„Eine Tochter!? Aber… das ist doch nicht möglich!“ stotterte der Zwerg ungläubig und ihm war, als würde ihm, für einen kurzen Moment, der Boden unter den Füssen weggerissen.
„Komm her und überzeug dich selbst!“ forderte ihn die Hüterin der Erde mit einer einladenden Geste auf.
Der Zwerg trat unsicher zu ihr hin und der mächtige Erdgeist, reichte ihm das Kind.
Es war ein wundervolles, kleines Wesen, mit braunen, schon ziemlich dichten, lockigen Härchen und es sah auch sonst definitiv weiblich aus. Sebius nahm das kleine Geschöpf zögernd und tief bewegt in die Arme. Er konnte es einfach nicht fassen! Er hatte die Geburt der ersten Zwergin miterlebt und er Sebius… war ihr Vater!