Der Ninja Gnom löste nun die Ketten um ihre Füsse und sprach: „Los geht’s! Unser Anführer wartet! Und versucht gar nicht erst zu fliehen, dieser Ort hier macht jede Flucht unmöglich.“
Die drei Freunde erhoben sich mit zitternden Knieen und der finstere Gnom, trieb sie vor sich her, aus der Höhle heraus. Unterwegs gesellten sich noch zwei weitere Ninjas zu ihnen und ihre Lage erschien nun noch aussichtsloser, als sie es bereits gewesen war. Das alles weckte in ihnen ein tiefes Gefühl der Ohnmacht, das nur schwer zu ertragen war.
Als sie die Höhle verliessen, hielten sie dennoch nach einem möglichen Fluchtweg Ausschau. Sie befanden sich jedoch in einem tiefen Talkessel, der rundherum von hohen Felswänden eingeschlossen war. Nirgends gab es eine Stelle, durch die man vielleicht hätte entfliehen können. Einige Zelte standen auf dem Grund des Talkessels. Zwei davon, es handelte sich dabei um Rundzelte, waren einiges grösser als die anderen. Eins davon bestand aus schwarzem, eins aus weissem Stoff.
Sie waren reich mit den unterschiedlichsten Mustern verziert. Die Gnomen-Ninjas führten sie herüber zum schwarzen Zelt, das mit roter Farbe bemalt war. Goldene und rote Kordeln zierten dessen Dachränder und Stützbalken. Ein wahrhaft königliches Domizil! Erstaunt blieben sie stehen.
Doch die Gnomen-Ninjas waren gnadenlos. Sie stiessen sie hart in den Rücken und die Freunde stolperten, mehr als sie gingen, in das Zelt hinein.
Dessen Inneneinrichtung konnte man ebenfalls als sehr prunkvoll bezeichnen. Der Boden war mit weichen Teppichen ausgelegt. Es gab elegante Möbel, aus dunklem Holz, teilweise mit samtenen Kissen darauf. Auf einem der grösseren Sessel, sass ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann, der sehr ähnlich gekleidet war, wie die Ninja Gnome. Allerdings war sein Gesicht nicht bedeckt und seine Kapuze zurückgeschlagen. Er besass sehr schöne, ebenmässige Gesichtszüge und einen gepflegten Schnauzbart. Seine stechenden, blauen, mit schwarzen Lidstrichen umrahmten Augen, richteten sich nun auf sie. Dieser Blick hatte irgendwie etwas Hypnotisches, Charismatisches an sich und es fiel den drei Gefangenen richtig schwer, sich wieder von dem seltsamen Mann abzuwenden. Sie versuchten hinter seine äussere Erscheinung zu blicken, aber es gelang ihnen einfach nicht, ihn richtig einzuschätzen. Der Mann erhob sich nun und trat näher zu ihnen heran.
Mit erstaunlich freundlicher Stimme begann er zu sprechen: „Sieh an sieh an, da sind ja unsere geschätzten Gäste.“
Benjamin der sich als erster wieder aus seiner Erstarrung löste, rief zornig. „Was faselt ihr da von Gästen! Wir sind doch eure Gefangenen. Wenn ihr uns wie Gäste behandeln wollt, dann lasst uns auf der Stelle frei!“
„Tja, das kann ich leider nicht tun. Wir brauchen euch noch, um meinen Getreuen zu ihren vorbestimmten Rechten zu verhelfen.“
„Von was für Rechten sprecht ihr da?“ fragte nun Lumniuz, ebenfalls wütend geworden. „Unter den Erdgnomen haben alle dieselben Rechte.“
„Ach tatsächlich?“ Der schwarzhaarige Mann zog zweifelnd seine Brauen nach oben. „Das macht mir und meinen Getreuen aber einen ganz anderen Eindruck. Sind es nicht vielmehr solche wie ihr, welche die meisten Rechte haben?“
„Nein, wir haben nicht mehr Rechte als all unsere Brüder und Schwestern.“ Der Mann lachte auf. „Da sieht man mal, welch verdrehte Sicht ihr auf die Dinge habt. Ihr wisst genau, dass ihr die armen Seelen im Nordreich stets benachteiligt habt. Niemand hat sich jemals um sie gekümmert, nicht mal der ehrenwerte Älteste Mungoluz, der euch jetzt scheinbar zu seinem Nachfolge ernannt hat.“
„Über Mungoluz‘ Nachfolge ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Ich habe mich jedoch bereiterklärt ihn zu vertreten, weil jemand eurer… Getreuen, ihm beinahe das Leben genommen hätte.“
„Also, davon weiss ich nichts,“ erwiderte der Schwarzgewandete und setzte dabei so eine Unschuldsmiene auf, dass die Freunde tatsächlich nicht genau wussten, ob er vielleicht doch die Wahrheit sprach. Der Schwarzgewandete fuhr nun fort: „Was macht euch bloss so sicher, dass ausgerechnet die Nordoks so ein schweres Verbrechen begangen haben? Die Westeks zum Beispiel, leben ebenfalls sehr nahe bei der nördlichen Grenze. Es… könnte doch auch gut sein, dass einer von ihnen es war und uns den Mordanschlag einfach in die Schuhe schieben will. Waren es denn nicht die Westeks, die euren ehrenwerten Ältesten gefunden und wieder aufgepäppelt haben? Was hätten sie denn so weit im Norden suchen sollen?“
Lumniuz fühlte auf einmal Unsicherheit in sich aufsteigen. Er konnte nicht leugnen, dass dieser seltsame Mann einige gute Argumente vorzuweisen hatte. „Aber nein! Das ist Blödsinn! Wenn die Westeks es tatsächlich auf Mungoluz‘ Leben abgesehen hätten, dann hätten sie ihn bestimmt nicht wieder gesund gepflegt,“ beruhigte er sich selbst. Dann sprach er: „Das ergibt doch keinen Sinn, ihr wollt doch nur von eurer eigenen Schuld ablenken. Die Westeks waren immer friedlich und machten uns nie Probleme. Ausserdem, wenn sie diesen Mordversucht verübt hätten, dann hätten sie unseren Ältesten doch nicht gerettet und sogar gesund gepflegt.“
„Wer weiss, wer weiss. Vielleicht wollten sie Mungoluz ja tatsächlich nicht wirklich umbringen. Vielleicht wollten sie nur die Fronten zwischen dem Nordviertel und den anderen Vierteln verhärten um uns… endlich loszuwerden. Ich bin jedenfalls hier, um den Nordoks zu helfen. Niemand sonst, hat ihnen bisher geholfen. Ich bilde sie in den unterschiedlichsten Kampfkünsten aus und werde sie schon bald ins Zentralviertel führen.“
„Was meint ihr damit?“ fragte diesmal Pia.
„Genau das, was ich gerade gesagt habe. Ich will die Nordoks ins Zentralviertel führen. Dort sollen sie endlich das Leben leben, das sie verdient haben.“
„Aber das geht nicht so einfach! Im Zentralviertel leben schon viele Leute!“ „Sie können ja von mir aus ins Nordviertel ziehen!“ meinte der dunkelhaarige Mann sarkastisch. „Aber… das würde die ganze Ordnung unter den Erdgnomen durcheinanderbringen!“ rief Lumniuz. „Jene die im Zentralviertel leben, haben besondere Verdienste vorzuweisen. Man kann sie nicht einfach von dort verjagen und sie enteignen.“
„Ach nein? Ich dachte, alle haben dieselben Recht in eurem Volk? Dann spielt es doch gar keine Rolle, wer genau wo wohnt.“
„Aber… das ist nicht der richtige Weg! Wir müssen doch gemeinsam eine Lösung suchen, die für alle stimmt. Dafür bin ich doch eigentlich hergekommen. Ich wollte mit den Nordoks verhandeln.“
„Wir glauben nicht wirklich an solche Verhandlungen,“ gab der Schwarzgewandete zur Antwort. Mit diesen Worten wandte er sich von den Freunden ab und setzte sich schwungvoll auf einen Stuhl, der an einem Tisch stand. „Und jetzt würde ich gerne etwas essen.“ Er rief einige Worte und eine junge Gnomin, trat mit einem Tablett voller Leckereien ein. Sie trug eine lange, weisse Kapuzen- Robe, mit braunen Einnähern aus Samt und einem ebenfalls braunen Gürtel um die Taille. Den Freunden lief das Wasser im Mund zusammen, als sie all die Leckereien sahen, denn sie hatten schon eine Ewigkeit nichts mehr gegessen. Die Gnomen- Frau stellte das Tablett vor den Schwarzhaarigen auf den Tisch und sprach: „Hier euer Abendessen mein Herr. Lasst es euch schmecken!“
Der Angesprochene nickte der Gnomin zu und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Dann begann er in aller Ruhe zu essen.
Peinliches Schweigen breitete sich aus, während die drei Gefangenen Qualen litten, weil der Hunger ihre Eingeweide fast zu zerreissen drohte. Sie blickten zu den Ninja- Gnomen herüber, die sie bewachten. Deren Blicke waren jedoch ausdruckslos und sie erfüllten weiterhin gewissenhaft ihre Aufsichtspflicht. Sie wirkten wie disziplinierte Soldaten, die still und voller Hingabe darauf warteten, dass ihr Anführer ihnen erlaubte wieder wegzutreten.
„Bruder Nacht!“ vernahmen sie auf einmal eine tadelnde Stimme, im Eingang zum Zelt. „Wie könnt ihr einfach so ruhig essen, während unsere… Gäste solche schrecklichen Hunger leiden müssen!? Gebt ihnen doch wenigstens etwas von eurer Mahlzeit ab! Solch ein Gebaren würde unserer grossen Erdmutter gar nicht gefallen!“
Erstaunt blickten sich die Freunde um. Vor ihnen stand ein weiterer, gutaussehender Mann, jedoch mit blondem Haar, ebensolchem Bart und dunkelblauen Augen. Er trug eine weisse Robe, ähnlich wie jene die die Gnomin vorhin getragen hatte, nur war seine noch etwas reicher verziert.
„Bruder Tag…“ Der Schwarzgewandete schien dezent genervt davon, auf solche Weise bei seinem Gaumenschmaus unterbrochen zu werden. „Ihr und eure ständige Moral Apostelei! Ich werde diesen… Unseligen keinesfalls etwas von meinem Mahl abgeben.“
„Doch das werdet ihr,“ meinte Bruder Tag bestimmt und die drei Freunde blicken ihn dankbar an. Der blonde Mann kam nun zu ihnen und… oh Wunder! Er befahl den Gnomen Bewachern, ihre Handfesseln zu lösen.
„Setzt euch!“ sprach er dann „und nehmt zusammen mit uns das Mahl ein. Immerhin seid ihr ja unsere Gäste!“