Am darauffolgenden Sonntagabend, blieb der Feuer- Greif noch etwas länger bei Manuel und sie nahmen, anders als sonst, gemeinsam das Abendessen zu sich. Dieses bestand diesmal aus einer gut gegarten Hammelkeule, Bratkartoffeln, Frischkäse und etwas Gemüse.
Manuel hatte grossen Hunger und genoss das reichhaltige Essen sehr. Er freutes sich ausserdem über die Gesellschaft des Greifen Mannes. Auch wenn dies gleichzeitig bedeutete, dass sein roter Freund ihn schon bald wieder für längere Zeit verlassen würde. Wie war wohl der Wasser- Greif?
„Meine Schwester ist eine sehr gütige, weise Persönlichkeit,“ sprach der Feuer- Greif, der seine Gedanken natürlich hörte. „Sie hat ausserdem einiges mehr an Empathie als ich oder mein goldener Bruder!“ Er lachte auf.
„Also, ich kann mich jedenfalls nicht beklagen,“ widersprach Manuel. „Du und dein Bruder seid sehr gut zu mir gewesen und ich habe von euch sehr viele wichtige Dinge gelernt.“
„Du wirst aber auch von meiner Schwester viele wichtige Dinge lernen. Und… ab und zu… wird sie dir vielleicht ebenso auf die Nerven gehen, wie wir. Dennoch glaube ich, ihr werdet euch grundsätzlich gut verstehen. Sie wird eine Menge mit dir meditieren und dir dabei behilflich sein, deine Schwächen und inneren Dämonen zu erkennen, diese näher anzuschauen und zu bearbeiten. Das wird dir manchmal einiges an mentaler Kraft abverlangen, doch es lohnt sich. Genauso wie die Grossen Führer, musst du dich selbst inn- und auswendig kennen, denn die blinden Flecken in deinem Inneren, dürfen keinesfalls zu Fallstricken werden, wenn du gegen das Böse in den Kampf ziehst.“
„Irgendwie habe ich ziemlichen Respekt vor der Aufarbeitung dieser inneren Schatten,“ gab Manuel zu. „Ich glaube nämlich, dass es da noch einige Dinge gibt, die ich näher anschauen muss.“
„Das kann durchaus sein.“
„Werde ich vom Wasser- Greifen eigentlich auch mehr über mein Leben als Ululala erfahren?“
„Das wird sich zeigen. Allerdings vermute ich stark, dass dies irgendwann sowieso zum Thema werden wird.“
„Das hoffe ich sehr. Denn, auch wenn ich mich an einiges aus meinem vergangenen Leben erinnern kann, gibt es da noch immer viele Wissenslücken und ich habe einfach das Gefühl, mir fehlt dadurch noch immer der Zugang zu meinem eigentlichen Potenzial.“
„Darin kann ich dich nur bestätigen. Das mag auch an einigen Blockaden liegen, die du noch mit dir herumträgst. Meine Schwester wird dir dabei behilflich sein, sie zu lösen und dann wird automatisch mehr Wissen in dein Bewusstsein einströmen.“
„Das klingt doch schon mal gut. Weisst du eigentlich schon, wann deine Schwester genau bei mir eintreffen wird?“
„Das kann ich dir noch nicht sagten. Du weisst…, wir Greifen sind launisch. Sie kann bereits am Morgen früh bei dir auftauchen oder auch später. Vielleicht taucht sie sogar erst in einigen Tagen auf.“
„Hmm, dabei hätte ich mich gerne etwas darauf vorbereitet.“
„Das wird nicht nötig sein. Meine Schwester ist da nicht so disziplin-versessen wie ich oder der Erden- Greif.“
Wieder schmunzelte der Feuergreifen Mann.
Manuel nickte, sagte jedoch nichts weiter dazu.
In Laufe des Abends verabschiedete sich der Feuer Greif von Manuel und dieser blieb mit seinen beiden Wölfen, einmal mehr, allein zurück. Simao kam zu ihm und schmiegte sich an seine Beine, während Manuel in seinem weichen Polstersessel sass und dem bunten Treiben der Feuergeister im Kamin zuschaute.
Der Junge hatte das Gefühl, schon um einige durchlässiger und feinfühliger geworden zu sein, seit er sich hier aufhielt. Gedankenverloren streichelte er das weiche Fell seines wölfischen Freundes.
„Es ist schön, dass ihr wenigstens bei mir seid,“ sprach er in Gedanken zu ihm. „Sonst wäre es hier schon sehr einsam.“
„Wir sind gerne bei dir,“ erwiderte Simao.
Simbala welche eben noch an den Überresten der Lammkeule herumgekaut hatte, kam nun ebenfalls zu ihnen und liess sich rechts, neben den Sessel nieder. Der junge Mann streichelte auch sie und einen Moment lang schwiegen sie und hängten ihren eigenen Gedanken nach. „Ich bin gespannt, wie dieser weibliche Greif sein wird,“ sprach die Wolfsfähe schliesslich.
„Das bin ich auch,“ erwiderte Manuel und Simao wiegte seinen grossen Kopf zustimmend hin und her.
„Ich wüsste nur gerne, wann sie genau auftaucht,“ fuhr der Junge fort.
„Wir werden auf jeden Fall Augen und Ohren offenhalten,“ versprach Simao.
„Danke, dafür wäre ich euch sehr dankbar. Am besten, ich gehe jetzt langsam zu Bett.“ Manuel erhob sich und machte sich zum Schlafen bereit. Eine ganze Weile konnte er jedoch nicht einschlafen, zumal draussen erneut ein wilder Schneesturm zu wüten begonnen hatte. Heulend pfiff der Wind durch die Ritzen und um die Hausecken herum. Doch der Junge war von seinem heutigen Training so erschlagen, dass er es nicht mehr schaffte aufzustehen und sich um den Schnee zu kümmern. Schliesslich fiel er dann endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die Lehren des Wasser- Greifs
Als Manuel jedoch am nächsten Tag erwachte, erschrak er ziemlich, denn an seinem Bett sass eine feingliedrige, wunderschöne Frau mit langem, dunkelblauen Haar und strahlenden, türkisblauen Augen. Um ihre Stirn lag ein silbernes Diadem, geschmückt mit kunstvollen Ziselierarbeiten. Sie trug einen reich verzierten, eng anliegenden Wams und dazu weite Pluderhosen, beides in verschiedensten Blauschattierungen gehalten. Die Haut der Frau war eher blass, ihre Nase schmal und ihre Lippen voll. Blautürkiser Lidschatten, hob ihre Augen besonders hervor, welche mit elegant geschwungenen Brauen überspannt wurden.
Lächelnd musterte sie ihren jungen Schüler. „Schön, du bist aufgewacht.“ Manuel sprach erschrocken auf. „Ist es schon spät?“ Dabei warf er einen vorwurfsvollen Blick zu seinen Wolfsfreunden herüber. „Warum habt ihr mich nicht vorgewarnt?“ rief er ihnen in Gedanken zu.
„Ach… ich sagte ihnen, dass wir dich noch etwas schlafen lassen sollten,“ gab die eindrucksvolle Frau, anstelle der Wölfe, zur Antwort. „Damit waren sie einverstanden. Auch wenn ich zugeben muss, sie waren sehr wachsam und haben meine Ankunft bereits bemerkt, bevor ich das Haus betrat.“
Der junge Mann dachte wieder an den Schneesturm von letzter Nacht. „Dabei hätte ich schwören können, dass wir hier, einmal mehr, vollkommen eingeschneit worden sind.“
„So war es auch tatsächlich. Aber ich habe da so meine Methoden.“
Manuel lief zur Tür und öffnete diese neugierig. Als er jedoch nach draussen treten wollte, blieb er wie angewurzelt stehen. „Da ist ja ein Teich vor meiner Hütte!“ rief er aus. Tatsächlich war über Nacht, inmitten der hohen Schneedecke, ein kleines Gewässer entstanden.
„Ich musste den vielen Schnee sowieso schmelzen, da dachte ich mir, ich lasse aus dem Schmelzwasser gleich ein Becken entstehen,“ erklärte die Wassergreifen Frau leichthin. „Es wird als besonderer Ort der Reinigung dienen. Sozusagen wie ein Taufbecken.“
„Ein Taufbecken? Aber wozu sollte ich so etwas brauchen? Ich bin schon getauft.“
„Dies wird jedoch eine andere Art von Taufe sein. Das regelmässige Bad in diesem Becken, wird Altlasten von die abwaschen und zugleich eine Reinigung an Leib und Seele herbeiführen.“
„Aber das Wasser wird bestimmt bald gefrieren, so kalt wie es hier ist. Und auch ich werde gefrieren, wenn ich hineinsteige. Baden ist an diesem Ort wahrlich keine besonders gute Idee.“
„Nur keine Sorge! Ich werde schon dafür sorgen, dass das nicht geschieht. Nun zieh dich aber erst einmal an, damit wir uns an die Arbeit machen können. Es ist bereits 12.30 Uhr!“