Die kommenden Stunden verbrachten Manuel und die Greifen Dame, vor allem mit Gesprächen und einigen kleineren Meditationen. Dabei wurde der junge Mann noch einmal aktiv in jenen Moment zurückgeführt, in dem er vom Tode seiner Eltern erfahren hatte. Dabei übermannte ihn noch einmal sein ganzer Schmerz, seine ganze Ohnmacht und er weinte viele, bisher noch ungeweinte Tränen. Er erkannte, dass ihm gar keine Möglichkeit gegeben worden war, sich auf würdige Weise von seinen Eltern zu verabschieden oder sie wirklich loszulassen. Da er sogleich nach der schlimmen Nachricht ins Märchenreich gereist war, hatte er nicht einmal an ihrer Beerdigung teilgenommen.
Trauer wechselte sich mit Wut ab und während der Wutphasen, machte er sich selbst Vorwürfe, dass er einfach so verschwunden war, er machte sogar Benjamin und Pia Vorwürfe, dass sie ihm nicht mehr Zeit für die Trauerarbeit eingeräumt, dass sie ihn nie wirklich zu Atem hatten kommen lassen. Auch auf Malek war er wütend, weil er dieses Ursprungsfindungsritual eigentlich viel zu früh mit ihm durchgeführt hatte.
Sogleich wies der 20- jährige sich dann jedoch wieder selbst zurecht, denn er hatte schlussendlich all diese Entscheidungen selbst getroffen. Niemand anderer war schuld daran, denn er selbst hatte seine Grenzen zu wenig ernst genommen. Er war einfach zu fasziniert von all diesen neuen Erkenntnissen gewesen. Die Neugier und die Sehnsucht nach Wissen, hatten ihn angetrieben und dabei war die, so bitter nötige Trauerarbeit, auf der Strecke geblieben.
Die Greifen Frau half ihm dabei, sich dieser Trauer noch einmal zu stellen und sie endlich nochmal richtig zu durchleben. Und auch wenn seine Kehle am Abend trocken vom vielen Weinen war und seine Augen brannten, so fühlte er sich doch irgendwie von einer schweren Last befreit, auch wenn damit erst der Anfang gemacht worden war.
„Du wirst, in der kommenden Zeit, nun alle Trauerphasen, die für die menschliche Psyche nötig sind, durchleben,“ sprach seine Mentorin als die Sonne bereits untergegangen war. „Doch heute reicht es erst einmal. Wir werden auch noch andere Dinge anschauen, die der heutige Tag offenbart hat. Es ist nicht nur Trauer, die dich blockiert, sondern auch Schulgefühle und eine grosse Portion Wut.“
„Ja, da ist tatsächlich viel Wut,“ gab Manuel zu. „Das ist mir gerade selbst so richtig bewusst geworden. Dabei ist meine Wut eigentlich nicht berechtigt. Niemand kann etwas dafür, dass sich alles so entwickelt hat. Nachdem der fahle Ritter, Pia das Medaillon der vier Gewalten gestohlen hatte, mussten wir sogleich handeln. Da blieb keine Zeit mehr für andere Dinge. Dann war da diese schlimme Seuche, welche die Welten heimsuchte und all diese seltsamen Visionen, die ich hatte. Wir mussten diesen Dingen auf den Grund gehen und schliesslich den Kranken helfen. Dabei musste ich die eigenen Bedürfnisse erst einmal hintenan stellen. Pia, Benjamin und auch Malek, tun das ja ständig.“
„So ist es. Doch sie haben auch schon einiges mehr durchlebt als du, in deinem bisher sehr behüteten Leben.“
„Aber damals als Ululala, habe ich sicher auch schon einiges an Erfahrungen durchlebt.“
„Das stimmt, doch noch hast du keinen vollkommenen Zugriff auf jene Erfahrungen. So ist das, besonders wenn man in die grobstoffliche Welt hineingeboren wird. Das Vergessen fällt stets über die vorherigen Leben, das ist ein nötiger Schutzmechanismus.“
„Aber genau dieses Vergessen ist es auch, das die ganze Situation so schwierig macht,“ klagte Manuel. „Hätte ich bereits Zugriff auf all diese Erfahrungen, dann würde mir bestimmt manches leichter fallen.“
„Damit hast du teilweise zwar recht. Doch glaube mir, es ist noch zu früh für dich, um dieses Wissen zu erhalten.“
„Aber warum, ist das bloss so?“
„Weil du dich mit dem Jetzt auseinandersetzen musst. Nur im Jetzt werden alle Samen gesät, die du für deine grosse, karmische Aufgabe brauchst. Darum musst du zuerst das Augenmerk auf dein momentanes Leben richten und auf all die Blockaden, die während seines Verlaufes, entstanden sind.
Es würde deshalb auch nichts nützen, wenn du die ganze Zeit im Kristallschloss zubringen würdest.“
Manuel horchte auf, als die Greifen Dame diese Worte sprach. Was wollte sie ihm damit bloss sagen?“
Seine Mentorin lächelte und fragte: „Willst du noch ein wenig Tee?“ (Warum bot sie ihm ausgerechnet jetzt Tee an?) Doch er nickte und liess sich nochmals eine Tasse einschenken. Etwas lustlos nippte er daran.
Die Greifen Frau musterte ihn eine Weile lang still, dann fuhr sie fort: „Kann es sein, dass du damals im Kristallschloss bleiben wolltest, weil du dachtest, du kannst dich dann besser an dein Leben als Ululala erinnern?“ Obwohl Manuel mittlerweile ziemlich müde war, dachte er intensiv über diese Frage nach.
Dann erwiderte er: „Ja, das könnte schon sein. Ich dachte tatsächlich, dass mir im Kristallreich alles leichter fallen würde.“
„Und doch war es eigentlich eine Flucht. Du warst stets auf der Suche nach Dingen, die schon längst vorbei sind. Im Laufe des Lebens, in deinem Elternhaus am Strand, wurdest du kaum mit Problemen konfrontiert. Alles lief für dich grösstenteils reibungslos. Nur dass du mehr sehen konntest als andere Menschen und dich dadurch manchmal als Aussenseiter wahrgenommen hast. Doch eigentlich warst du nie wirklich ein Aussenseiter, denn du wurdest von allen, mit denen du zu tun hattest, stets bedingungslos geliebt.“
„Ja… das stimmt…,“ gab der Junge mit erstickter Stimme zurück. „Besonders… von meinen Eltern…“
Erneut traten Tränen in seine Augen.
„Das stimmt. Es gehörte auch zu deinen Seelenplan, deine ersten Lebensjahre in dieser Geborgenheit und Liebe zuzubringen.
Beim Eintritt in dein 20. Lebensjahr jedoch, sollten ganz neue Herausforderungen auf dich warten.
Du warst dich solche Herausforderungen bisher noch gar nicht gewöhnt und du suchtest, durch dein Verweilen im Kristallreich, eine gewisse Sicherheit und Orientierung. Doch dadurch hast du dich nur selbst getäuscht.“
„So ist es tatsächlich. Jetzt wo du es sagst… muss ich mir das wohl eingestehen. Ein weiterer Punkt bei dem ich wohl ebenfalls versagt habe.“
„Rede nicht stets von Versagen!“ tadelte ihn die Greifen Frau. Es gibt kein Versagen! Das waren psychologisch absolut nachvollziehbare Handlungen. Ich kann dich gut verstehen. Als Mensch hat man es oft sehr schwer. Schon als du noch Ululala warst, habe ich dich gekannt und ich habe dich einstmals davor gewarnt, dass das Menschsein auch seine Tücken bereithält. Doch es gehörte ebenfalls zu deinem Seelenplan, dass du diesen Weg gehst, dass du erfährst, was Menschsein, mit all seinen Anforderungen, bedeutet. Nur so konntest du ein grösseres Verständnis für jene aufbringen, die in der grobstofflichen Welt existieren.“
„Du sagst, du hast mich schon als Ululala gekannt?“
„Natürlich. Du weisst doch, wir Greifen sind uralte Wesen und haben vieles gesehen.“
„Kannst du mir dann etwas mehr über mein Leben als Ululala berichten?“ wollte der Junge hoffnungsvoll wissen.
„Einiges kann ich dir berichten, jedoch nicht alles.“
„Das reicht mir schon!“ Manuel sprang erfreut auf. „Wollen wir uns jetzt erst mal etwas Feines kochen und dann darüber sprechen?“
Die schöne Dame mit den dunkelblauen Locken, überlegte einen Moment, dann meinte sie lächelnd: „Also gut. Machen wir uns also ans Kochen!“