So begab es sich, dass die vier Freunde, begleitet von einigen weiteren Gnomen, endlich ihren Weg fortsetzen konnten.
Schliesslich kamen sie zum Eingang einer weiteren, mächtigen Tropfsteingrotte. „Hier wurde die Feder gefunden,“ sprach einer der Westeks, welche Schnösiuz ihnen zur Seite gestellt hatte.
„Sehr gut,“ freute sich Benjamin. „Dann machen wir uns mal auf die Suche nach dem Wasser- Greif. Ich hoffe es geht ihm gut.“
Da es in der Grotte ziemlich dunkel war, begann die kleine Sonnenfee Solaria, die noch immer als helle Kugel über ihnen schwebte, ihren Schein zu intensivieren. Vorsichtig setze die Truppe einen Fuss vor den andern, denn man wusste ja nie, was sich in dieser Finsternis so alles verbarg. Morcheluz sprach: „Es ist gut, dass ihr diese besondere Lichtquelle habt, denn in den dunkleren Abschnitten des Höhlensystems treiben sich, seit einiger Zeit, ziemlich unangenehme Kreaturen herum: Grosse Spinnen, Lindwürmer und nicht zu vergessen, die heimtückischen Worlows.“
„Worlows?“ fragte Pia
„Ja, das sind wolfsähnliche Kreaturen, welche jedoch vornehmlich auf zwei Beinen laufen.“
„So etwas wie Werwölfe?“
„So ähnlich. Allerdings weniger intelligent und einiges animalischer.“
„Könnten womöglich solche Worlows das Mischwesen angegriffen haben?“ wandte sich Pia an Benjamin und Malek.
„Ich glaube kaum, dass irgendwelche wölfische Kreaturen tatsächlich eine Chance gegen die gewaltige Kraft und das magische Potenzial eines Greifs hätten,“ antwortete Malek. „Nein… es muss etwas anderes gewesen sein, etwas weitaus Mächtigeres…“
Er hielt auf einmal inne und blickte zu Boden. „Seht ihr das? Hier ist alles verkohlt und schwarz.“
Und tatsächlich! Es sah an manchen Stellen so aus, als wäre das Gestein durch den Einfluss unglaublicher Hitze verflüssigt worden und hätte sich, bei seiner Abkühlung, zu einer schwarzen, glasigen Masse verformt.
„Das… sind Brandspuren! Eine unglaubliche Kraft muss hier gewütet haben.“ Den Freunden wurde es immer mulmiger zu Mute.
„Das… sieh wirklich nicht gut aus. Hier muss der Kampf stattgefunden haben.“ Benjamin sah sich um. Etwas weiter vorne lagen die Überreste von unzähligen Stalaktiten, die von der Decke gekracht waren. Einige steckten sogar, wie scharfe Pfeile, im Boden. Auch viele Stalagmiten waren beschädigt und abgebrochen.
„Nur eine wirklich grosse Kreatur könnte so einen Schaden an den Tropfsteinen anrichten,“ sprach Lumniuz besorgt. „Der Greif?“
„Davon ist wohl auszugehen. Aber noch immer ist die Frage offen, gegen wen oder was, das Mischwesen so heftig gekämpft hat. Wir müssen das unbedingt herausfinden. Kommt!“
Ein Stück weiter vorne, blieben sie erneut stehen und kalte Schauder liefen den Freunden über den Rücken. Auch hier bot sich ihnen ein Bild der Zerstörung dar. Doch zu allem Elend, lagen überall blaue Haare und Federn herum, die ziemlich sicher zum Wasser- Greif gehörten. Benjamin beugte sich herunter und berührte mit seinen Fingern einen rotglänzenden Fleck. „Das… ist Blut!“ sprach er und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
„Blut?“ rief Pia „bist du sicher?“
„Allerdings.“
„Beim grossen Schöpfer! Das ist schrecklich! Wir müssen den Greifen unbedingt finden! Kommt!“ sie verschnellerte ihren Schritt nun noch mehr und innert kürzester Zeit hatten sie die erste Grotte durchquert und betraten nun eine weitere. Mit schreckgeweiteten Augen blickten sie auf die Szenerie die sich ihnen nun darbot!
Der Wasser- Greif verlor nun immer öfters das Bewusstsein, denn der Blutverlust, den er beim Kampf mit den drei Rittern und nun auch noch durch diese gierigen Worlows erlitten hatte, schwächte ihn sehr. Eigentlich wäre er jetzt gern gestorben, um diesem schrecklichen Leiden, diesem Schmerz endlich zu entrinnen. Doch Greife waren nun mal unsterblich und darum suchte er Zuflucht in der Bewusstlosigkeit, nur um nicht mitzukriegen, dass ihn die Worlows mehr und mehr, bei lebendigem Leibe, auffrassen.
Dann jedoch, nahm er hinter seinen schweren Augenlidern ein helles Licht wahr! Er versuchte die Augen zu öffnen. Sein Blick war jedoch zu verschleiert und er nahm nur einige schemenhafte Gestalten, die sich im Lichte bewegten, wahr. Doch da war noch etwas anderes! Er spürte die Zähne und Klauen der Worlows auf einmal nicht mehr!! Unendliche Erleichterung und Dankbarkeit ergriff sein Herz und dann glitt er erneut hinüber in eine tiefe Ohnmacht…
„Bei allen guten Geistern!“ schrie Pia „da ist er!“ Sie und ihre Begleiter eilten zu dem schwer verletzten Mischwesen. Die Worlows knurrten und fletschten ihre riesigen Zähne. Doch sogleich als Solarias Licht sie traf, fielen sie heulend in sich zusammen und wurden zu Staub.
Der Greif war blutüberströmt, hatte unzählige tiefe, teils verkohlte Wunden und atmete kaum noch.
„Wie furchtbar!“ schluchzte Pia, kniete neben dem gewaltigen Wesen nieder und umfing sein blutiges Haupt mit ihren Armen. „Wir müssen ihm unbedingt helfen. Malek! Du hast doch Heilkräfte. Bitte tu etwas!“
„Lass mich mal sehen,“ sprach der Magier mitfühlend und begann nun den Körper des Greifs abzutasten.
„Es sieht... nicht gut aus,“ sprach er dann ernst. „Man hat ihn schlimm zugerichtet. Zuerst müssen wir auf jeden Fall die Blutungen stillen.“
„Kannst du das?“ wollte Benjamin hoffnungsvoll wissen.
„Nur in begrenztem Rahmen. Die Verletzungen sind zu schwer, teilweise schwarzmagisch.“
„Schwarzmagisch? “
„Ja… Sie tragen… irgendwie die Signatur der… bösen Ritter. “
„Die bösen Ritter haben ihn also angegriffen?“
„Es sieht fast so aus. . „Lumniuz! Wir brauchen mehr Männer und die Heilerde der Gnome. Könntest du dich darum kümmern?“
„Ja natürlich,“ erwiderte der Angesprochene.
„Benutz mein Muschelhorn!“ anerbot sich Morcheluz und nahm ein grosses Muschelhorn von seinem Gürtel. Die Erdgnomen benutzten gerne solche Hörner, um innert kürzester Zeit Hilfe herbeizurufen. Wenn das Horn erklang, wussten alle Erdbewohner im näheren Umkreis, dass es sich um einen Notfall handelte und alle strömten herbei.
Lumniuz nahm des Muschelhorn dankbar entgegen und blies hinein.
Ein tiefer durchdringender Ton, der weit herum schallte, erklang. Kurz darauf, tauchten die ersten Gnomen auf.
Noch zweimal blies Lumniuz in das Horn und es eilten immer mehr seiner Brüdern und Schwestern zur Hilfe. Die Freunde waren sehr beeindruckt, wie stark der Zusammenhalt bei den Erdgnomen war.
Als die kleinen, vorwiegend in Braun und Grüntöne gekleideten Geschöpfe, in der mächtigen Grotte eintrafen und das gewaltige, blaue Mischwesen erblickten, blieben sie jedoch ziemlich abrupt stehen. „Was… ist das?“ fragten sie und man spürte die Angst und Unsicherheit in ihren Stimmen. „Das ist ein Greif,“ meinte Lumniuz „und er ist schwer verletzt. Darum brauchen wir eure Hilfe. Bitte besorgt genug Heilerde, Wasser und Verbandszeug, damit wir uns um ihn kümmern können. Er hat sehr viel Blut verloren. Los! Beeilt euch!“
Die Angesprochenen lösten sich aus ihrer anfänglichen Erstarrung und eilten wieder davon. Unter ihnen war auch Morcheluz.
Kurz darauf, kehrten alle nach und nach zurück. Bei sich trugen sie einige mächtige Tontöpfe, von denen einige gefüllt mit Heilerde, andere mit Wasser waren.
Benjamin und Pia schöpften wieder Hoffnung, denn sie wussten, wie effizient die Heilerde der Gnomen war. Hatten sie doch damals vor zwanzig Jahren einen Beutel mit dieser Heilerde von Lumniuz, als Geschenk erhalten. Die Erde hatte ihnen schon wertvolle Dienste geleistet, unter anderem als sich Pia, durch einen Kampf gegen einen Diener des Bösen den Knöchel verletzt hatte.
Benjamin, ging wieder zurück und untersuchte nun den Fuss seiner Schwester. „Tut es sehr weh?" fragte er besorgt. „Ja ziemlich," erwiderte Pia. „Dort drüben ist ein Bach. Komm mit! Das kühle Wasser wird dir guttun." „Vielen Dank! Diesem Ungeziefer, hast du es aber gegeben!“ grinste sie. Dann humpelte sie, gestützt von ihrem Bruder, zu dem Gewässer. Dort zog sie ihren Schuh und ihren Strumpf aus und hielt den, bereits stark angeschwollenen Fuss, in das kühle Nass. Es tat wirklich sehr gut. Benjamin zog die Heilerde von Lumniuz aus dem Beutel und rührte sie mit etwas Wasser an, dann legte er den Brei auf den verletzen Fuss und band ein Stoff- Taschentuch darum. „Mal sehen ob es wirkt," sprach er. „Ich fühle bereits, dass es stark bessert," erwiderte Pia erstaunt. „Versuch mal, ob du auftreten kannst.“ Das Mädchen tat wie ihm geheissen und tatsächlich, sie konnte den Fuss bereits wieder ganz gut belasten. „Die Erde von Lumniuz wirkt Wunder," meinte Benjamin. „Meinst du, wir können weiter?" „Ich glaube schon," antwortete Pia. „Tatsächlich konnte Pia kurz darauf wieder, beinahe ohne Hilfe, gehen. „Es ist erstaunlich wie schnell diese Heilerde wirkt!“ freute sie sich. „Wir haben da wirklich ein sehr wertvolles Geschenk erhalten.“
Wie damals Ben, rührten die Gnomen nun einen Brei aus der Erde und dem Wasser an und begannen damit die Wunden des Greifs zu verarzten. Schon bald wurden die schlimmsten Blutungen gestillt. Die Heilerde bildete eine Art Kruste, welche die Wunden verschloss und ihnen die Möglichkeit gab besser zu heilen.
In den kommenden Stunden waren ungefähr fünfzig Gnome damit beschäftigt sich um den Greifen zu kümmern.
Malek kniete währenddessen neben der gewaltigen Adlerhaupt des Mischwesens und flüsterte ihm leise Worte ins Ohr.
„Er vollzieht so eine Art Stärkungsritual,“ meinte Lumniuz. „So ähnlich wie damals bei Hungoloz. Das soll die Selbstheilungskräfte des Greifs mobilisieren. Allerdings wurde er schon sehr arg zugerichtet. Ich hoffe deshalb, er schafft es.“
„Er muss es einfach schaffen,“ sprach Pia und wieder stiegen Tränen in ihre Augen. „Wir müssen doch erfahren, was ihm zugestossen ist. Wenn sich die Ritter hier herumtreiben, dann droht dem Erdreich grosse Gefahr.“
Ein Schatten fiel über Lumniuz Gesicht und er sprach: „Dann hoffen wir mal, dass der Greif es tatsächlich schafft. Vorerst können wir wohl nicht mehr tun, als zu beten und uns so gut als möglich um ihn zu kümmern.
„Ja, beten wäre auf jeden Fall eine gute Idee,“ mischte sich nun Malek wieder ins Gespräch, der seine Heil- und Stärkungsritual nun beendet hatte. „Mehr kann ich leider nicht für ihn tun. Er liegt jetzt in den Händen der höheren Geister. Hoffen wir, sie stehen ihm bei.“
„Das werden sie bestimmt. Wir müssen einfach innständig ihren Beistand anflehen.“ Und das taten sie dann auch.
Die kommenden Tage und Nächte, hielten stets mehrere Leute bei dem mächtigen Mischwesen Wache. Dieses lag noch immer fast reglos da und sein Atem ging sehr flach. Noch immer schien keine wirkliche Besserung einzutreten, auch wenn die Wunden nun etwas besser aussahen und nicht mehr bluteten. Doch da gab es noch viel grössere Wunden, Wunden die nicht sichtbar waren, aber die in der Seele des Greifs klafften. Die schweren, schwarzmagischen Attacken der drei bösen Ritter, hatten ihm Furchtbares angetan. Dinge, die für sterbliche Geschöpfe unvorstellbar waren, da sie diese gar nicht ertragen hätten, ohne zu sterben oder den Verstand zu verlieren.
Diese verborgenen Wunden mussten ebenfalls geheilt werden, denn mit dem Heilen der äusseren Wunden, war es nicht getan.
Das blaue Mischwesen, konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Er fühlte wohl die Nähe, die helfenden Hände der Sterblichen, um sich herum. Doch in seinem Kopf war es leer. Ausserdem war es müde… so schrecklich müde.
Immer wenn die Geschwister und Malek bei dem Greifen wachten, verbrachten sie einen grossen Teil der Zeit mit Gebeten an den Grossen Geist und die Elementarfürsten.
Eines Nachts dann, als Pia gerade wieder kurz eingenickt war, während sie an der Seite de Greifs wachte, erschien auf einmal ein helles Licht in der Höhle! Ohne dass Pia oder die anderen Anwesenden etwas davon mitbekam, trat aus diesem Licht eine wundervolle, leuchtende Gestalt, mit grossen, silbrig- blauen Flügeln.
„Meister…“ rief ihm der Geist des Mischwesens zu. „Du bist gekommen! Bitte hilf mir! Ich…fühle mich so schwach und… so verloren in der Dunkelheit!“
Das leuchtende Wesen trat zu dem sterbenskranken Geschöpf und lächelte sanft: „Fürchte dich nicht!“ hörte der Greif, tief in seinem Inneren, dessen Stimme. „Ich werde dir helfen!“