Je tiefer sie in die Höhle vordrangen umso mehr spürten sie eine gewaltige, kraftvolle Präsenz, die sehr an jene des Erden- Greifs erinnerte. Diese hier war jedoch noch etwas feuriger, lebhafter und temperamentvoller.
„Ich spüre ihn,“ flüsterte Malek.
„Ja, wir auch,“ bestätigten die Geschwister. Einmal mehr ergriff sie tiefe Ehrfurcht und Respekt, dem mächtigen Wesen gegenüber, dass nun nicht mehr weit weg von ihnen entfernt sein konnte. Noch eine Weile gingen sie den dunklen Gang entlang, der nur vom Licht ihrer Fackel erleuchtet wurde. Doch dann wurde es immer heller! Warmes, rotglühendes Licht umgab sie auf einmal und dann traten sie in die gewaltige Dom- Grotte, in welcher der Greif seine Wohnstatt hatte!
Die Federn und das Fell des gewaltigen Wesens loderten, wie Feuerflammen, sein Schnabel und seine Krallen waren schwarz und aus seinen, schwarz umrahmten Augen, drang ein goldenes Leuchten.
In majestätischer Pose sass er da, wie eine Sphinx. Sein Adlerhaupt war den dreien aufmerksam zugewandt, als habe er sie bereits erwartet. Einmal mehr, waren die Gefährten richtiggehend erschlagen von der Grösse, Gewalt und Kraft dieses Wesens. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie überhaupt ein Wort über die Lippen brachten.
Der Feuer- Greif war beinahe noch eindrucksvoller als der Erden- Greif. Er schien ihre Unsicherheit zu bemerken und ergriff als Erster das Wort: „Seht, seht, die Grossen Führer und ihr treuer Freund Malek! Willkommen in meinem bescheidenen Heim!“
Nun, der Feuer- Greif schien wenigstens bereits zu wissen, wer sie waren und er wirkte etwas freundlicher und offener als damals sein goldener Bruder.
So stotterte Benjamin: „Danke für deine Freundlichkeit, grosser Greif!“ Dann deuteten er und die anderen, eine leichte Verbeugung an.
Der Greif liess so etwas wie ein Lachen hören und meinte mit einem unerwarteten Schalk in den Augen: „Ihr seid aber ziemlich angespannt meine Lieben.“
Der kollegiale Tonfall des Mischwesens, erstaunte die Freunde, doch er half ihnen, sich etwas zu entspannen.
„Eigentlich bin ich ja nicht der erste Greif dem ihr begegnet,“ fuhr der Feuer- Greif fort. „Habe ich recht? Ihr steht sogar unter dem Schutz meines goldenen Bruders. Ich spüre seine Präsenz deutlich.“
„Ja, das stimmt,“ sprach Pia nun etwas selbstsicherer geworden. „Der Erden- Greif sagte uns, dass wir dich vermutlich im Trollenreich finden werden. Wir brauchen ganz dringend deine Hilfe!“
„Ach jeh! Immer braucht irgendwer meine Hilfe!“ seufzte das Mischwesen. „Haben denn schon andere, vor uns, um deine Hilfe ersucht?“ wollte Ben wissen.
„Natürlich! Ich werde regelmässig um Hilfe ersucht…,“ sprach der Greif, doch dabei zwinkerte er kurz mit einem Auge.
„Nein, Scherz beiseite! Kaum jemand wagt es, mich wirklich aufzusuchen. Ich helfe meistens im Stillen und jene denen ich helfe, bekommen mich dann auch kaum zu Gesicht. Die meisten hätten vermutlich sowieso zu grosse Angst vor mir. Dabei reisse ich nur ganz selten mal jemandem den Kopf ab oder fresse ihn auf. Ich… habe einen empfindlichen Magen, müsst ihr wissen.“
Die Freunde schauten das Mischwesen prüfend an. Machte dieses jetzt schon wieder einen Scherz?
Der Greif musterte sie eindringlich und fragte: „Glaubt ihr mir etwa nicht, dass ich schon mal so etwas getan habe?“
Pia meinte ziemlich keck: „Also, ich glaube das nicht so wirklich!“
Das mächtige Geschöpf richtete sich nun etwas bedrohlich auf und donnerte: „Du zweifelst also an den Worten eines Greifs?“
„Was das Kopf abreissen und auffressen anbelangt schon. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass dich nur selten jemand direkt um Hilfe ersucht. Du bist einfach zu mächtig und zu eindrucksvoll. Das kann schon etwas Angst machen. Aber ich glaube, dass dies dich auch manchmal ziemlich einsam macht.“
Der Greif runzelte leicht seine Stirn und seine feurigen Augen nagelten die Frau eine Weile lang fest.
Doch Pia hatte ihre Angst nun vollends überwunden und erwiderte furchtlos seinen Blick.
„Du bist ein ziemlich mutiges, kleines Geschöpf,“ sprach das Mischwesen und in seine Stimme schwang nun sogar etwas Liebevolles mit.
„Ihr habt alle sehr mutige Herzen, das habe ich gesehen.“
„Wir haben auch ein reines Gewissen,“ meinte diesmal Benjamin „und darum glauben wir, dass du uns nichts tun wirst. Zumal wir ja auch schon unter dem Schutz des Erden- Greifs stehen.“
„Damit habt ihr allerdings recht,“ der Feuer- Greif nahm nun eine etwas entspanntere Pose ein, indem er seine Vorderbeine nach vorne ausstreckte.
Dann fragte er: „Was also, habt ihr auf dem Herzen?“
„Weisst du das nicht schon längst?“ stellte Benjamin die Gegenfrage.
Wieder liess das Mischwesen ein leises Lachen hören: Nun ja, reine Formfrage. Ihr kleinen Zweibeiner mögt es doch, wenn man euren Anliegen bewusst Gehör schenkt, auch wenn man eigentlich schon weiss, worum es geht.“
„Damit hast du wohl recht. Aber, wenn du sowieso schon alles weisst, dann müssen wir ja auch nicht mehr so viele Worte verlieren,“ gab Benjamin zurück.
„Dein Pragmatismus gefällt mir,“ wieder zwinkerte der Greif. „Ihr seid vor allem hier, weil ihr den Schlüssel in Obislavs Welt sucht, habe ich recht?“
„Ja genau. Hast du ihn womöglich?“
„Nein leider nicht. Ich habe diesen Schlüssel noch nie gesehen.“
Die drei Freunde liessen betrübt die Köpfe hängen. Wieder nichts!
„Es tut mir leid,“ sprach der Greif mitfühlend. „Aber seid versichert, dass ihr euch auf der richtigen Fährte befindet.“
„Du meinst…, einer deiner anderen beiden Geschwister hat den Schlüssel?“ „Ja, ich weiss nur nicht genau, welcher von ihnen.“
„Das sind doch schon mal wundervolle Neuigkeiten,“ freute sich Malek. „Kannst du uns zufällig sagen, wo der Luft- und der Wasser- Greif sich gerade aufhalten?“
„Leider nicht so wirklich. Ihr wisst ja, wie wir sind: Immer an einem anderen Ort. Meine Geschwister und ich, nehmen zwar immer mal wieder Kontakt zueinander auf, aber gerade habe ich schon länger nichts mehr von ihnen gehört. Abgesehen von meinem goldenen Bruder.
Der Luft- Greif ist besonders lebhaft und immer in Bewegung. Oft vergisst er sich dann zu melden.
Was den Wasser- Greif betrifft… von ihm hörte ich das letzte Mal als er im Juwelen- Reich war, doch dort ist er schon länger nicht mehr.“
Wieder fiel ein Schatten über das Gesicht der drei Gefährten. Wie nur sollte es jetzt weitergehen...?