Die Weisse Himmelsstadt
Die Eltern von Pia und Benjamin starrten tief beeindruckt auf die alte Dame, die sich so plötzlich vor ihnen materialisiert hatte. „Seid gegrüsst,“ vernahmen sie ihre Worte, jedoch nur in ihrem Inneren, denn die Lippen der alten Dame bewegten sich nicht. „Bist… du die Alte Windfrau, von welcher der Greif vorhin sprach?“ fragte Julia.
„So ist es,“ erwiderte die Greisin. „Ich und auch meine Töchter, werden sich ab jetzt um euch kümmern. In den nächsten Tagen werdet ihr eine Menge entdecken, lernen und erkennen. Euch wird Einblick in Dinge gewährt werden, die jenseits eures irdischen Verstandes liegen.“
„Das ist ja bereits passiert,“ gab Daniel etwas ironisch zurück.
„Aber das ist noch lange nicht alles. Ihr werdet eine ganz besondere Gnade erfahren, eine Gnade, die nur wenigen zuteilwird. Doch ihr seid die Eltern der Grossen Führer und darum ist es wichtig, dass ihr über alle Zusammenhänge Bescheid wisst. So kommt nun also mit mir!“
Die Mutter der Vier Winde drehte sich um und ging ihnen voraus. Dabei schienen ihre nackten Füsse den Boden jedoch nicht wirklich zu berühren. Sie schwebte eher, als sie ging. Julia und Daniel kamen sich neben ihr richtig schwer und grobschlächtig vor. Denn unter ihren Füssen, verflüchtigte sich der Boden ständig und setzte sich erst ein Stück weiter entfernt von ihnen wieder zusammen. So erzeugten sie richtige, kleine Krater, in der ätherischen Masse.
„Vielleicht… sollten wir unsere Schuhe ausziehen?“ meinte Julia schliesslich. „Ich komme mir vor wie die Axt im Walde, wenn ich mit meinen Schuhen hier herumtrample, während die Windfrau einfach nur dahinschwebt, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.“
Daniel nickte zustimmend und sie zogen ihre Schuhe aus. Tatsächlich schienen ihr nackten Füsse nun weniger Störungen zu verursachen und auch wenn sich der Boden immer noch unter ihren Schritten verflüchtigte, tat er es nun langsamer und sie spürten die Kühle und Weichheit dieser seltsamen Substanz an ihren nackten Fusssohlen. Es war wirkliche ein sehr besonderes Erlebnis.
Schliesslich erklommen sie einen Hügel. Noch immer erblickten sie überall die wunderschönsten Blumen und Gräser, die stetig ihre Form und Farbe wechselten.
„Es ist einfach herrlich hier! So ganz anders als auf der Erde.“ sprach Julia tief bewegt. „Alles scheint hier viel leichter und schöner. Kein Krieg, keine Ängste und keine Sorgen, quälen einem. Ich hoffe nur, wir träumen das alles nicht.“
Daniel nickte zustimmend. „Ja, das hoffe ich auch.“
„Ich kann euch versichern, dass ihr nicht träumt,“ vernahmen sie sogleich die Stimme der Alten Windfrau in ihrem Geist. „Euch wurde Zugang in mein Reich gewährt und all die Wunder, die ihr hier seht und noch sehen werden sind real.“
„Wohin gehen wir eigentlich?“ wollte Daniel wissen.
„Ihr werdet es gleich sehen. Wenn wir dort oben angelangt sind.“ Die Windfrau deutete auf die Hügelkuppe über ihnen.
Erfüllt von freudiger Erwartung verschnellerten die Turners ihren Schritt und stellten erstaunt fest, dass sie gar keine Müdigkeit verspürten, auch wenn es ziemlich steil aufwärts ging. Als sie dann oben auf der Kuppe des Hügels anlangten, blieben sie wie angewurzelt stehen. Vor ihnen, schwebend in den lichten Räumen eines wundersam schillernden Himmels, erblickten sie eine mächtige Stadt. Sie wirkte wie ein weisses Juwel mit schimmernden Wänden und perlmutternen Dächern. Eine wattenartige Wolkentreppe führte zu ihr hinauf. Elegant geschwungene Türme und Erker schmückten sie. Darüber gab es nochmals eine Wolkentreppe, die in breiten Windungen weiter hinauf in den Himmel führte. Ein leuchtender Regenbogen, breitete sich über allem aus. Einhörner und Pegasusse in allen Farbschattierungen, tummelten sich hier und zarte Wesen mit wehenden Gewändern und alabasterner Haut, bevölkerten die Stadt. „Was um alles in der Welt ist das für ein Ort?“ fragte Julia. „Ihr könnt sie einfach die Weisse Himmelsstadt nennen. Sie ist eine von vielen, die nun nach und nach über gewissen Gebieten des Omniversums auftauchen werden. Doch nicht alle werden sie zu Gesicht bekommen.“
„Aber wozu das alles?“ fragte Daniel, obwohl er sich die Antwort schon denken konnte.
„Diese Städte dienen dazu, jene Geschöpfe aufzunehmen, die bereits einen grossen Erkenntnisstand besitzen. Die Luftgeister haben sie eigens für diesen Zweck erbaut und wir sind sicher, dass sie sich nun mehr und mehr füllen werden.“
„Aber warum gerade jetzt? Hat das etwas mit den Umwälzungen in den Welten zu tun, von denen unsere Kinder sprachen.“
„Genau.“
„Dann werden diese Umwälzungen also tatsächlich so schlimm werden?“
„Das kommt ganz darauf an, wie sich die Geschöpfe noch entwickeln werden. Auch für Wesen wie mich, liegt das noch im Dunkeln. Aber ich und meine Töchter werden unser Bestes geben, möglichst viele in unsere Himmelsstädte zu bringen.“
„Was ist das eigentlich für eine Wolken-Treppe, die oberhalb der Stadt weiter hinauf in den Himmel führt?“ wollte Julia neugierig wissen. „Das ist die Himmelstreppe. Sie führt hinauf in noch höhere Ebenen. „Du meinst ins Paradies?“ fragte die Frau aufgeregt. „Nun… aus menschlicher Sicht betrachtet ist das nicht mal so falsch. Auch wenn es das eine Paradies nicht wirklich gibt. Das sogenannte Paradies besteht aus vielen verschiedenen Ebenen und Welten. Im Hause des Ewigen Geistes sind viele Wohnungen.“ „Können wir dort hinauf?“
„Nein. Noch seid ihr nicht so weit. Ihr habt noch eine Menge zu lernen. Nun folgt mir! Wir werden der Weissen Himmelsstadt jetzt einen Besuch abstatten.“