Die Turners taten sogleich wie ihnen geheissen, denn sie hatten die Dringlichkeit in Isobias Stimme vernommen. So packten sie alles, was sie brauchten, zusammen. „Müssen wir auch Vorräte mitnehmen?“ fragte Julia. „Nein, dafür wird schon gesorgt sein, dort wo wir hingehen.“
„Aber wohin gehen wir?“ wollte Daniel wissen. „An einen der noch wenigen, sicheren Orte. Ihr müsst wissen, der Arm der bösen Ritter und ihrer Schergen reicht weit. So sind auch die Nachbarssphären der Erde davon betroffen, wenn z.B. irgendjemand hier einen Atomkrieg beginnt.“
„Nachbarssphären?“ fragte Daniel, denn er konnte sich noch immer nicht so wirklich vorstellen, wie das sogenannte Omniversum genau aufgebaut war. „Nachbarssphären sind unsichtbare bzw. astrale oder ätherische Ebenen, die für euch, die ihr in der materiellen Abtrennungssphäre existiert, normalerweise unsichtbar sind. Auch das Reich der Mythen, Märchen und Legenden ist so eine Nachbarssphäre, die wiederum in viele unterschiedliche Bereiche unterteilt ist. Euren Kindern wurde damals vor 20 Jahren das erste Mal Einblick in diese Ebene gewährt und durch die sogenannte Sphärenwanderung, lernten sie dann sogar, zwischen den unterschiedlichen Reichen der Märchen- und Legendenwelt hin und her zu reisen.“
„Das alles klingt für mich unglaublich kompliziert,“ beklagte Vater Turner. „Von solchen Dingen habe ich bisher noch kaum etwas gehört und es fällt mir nicht gerade leicht, das alles zu glauben.“
„Das wird schon noch kommen, wenn wir an unserem Ziel angelangt sind,“ erwiderte Isobia gleichmütig. „Auch eure Kinder konnten das alles anfangs nicht so wirklich verstehen. Aber sie besassen offene Herzen und schliesslich wuchsen sie in die neuen Realitäten hinein. Mittlerweile sind sie zu einem Leuchtfeuer für viele Lebewesen geworden. Ach, es gäbe noch so viele Geschichten von Pia und Benjamin zu berichten, aber die Zeit drängt. Wir werden von jemandem erwartet, der euch an euren Zielort bringen wird.“
„Aber was ist nun dieser Zielort?“ hakte Julia diesmal nach.
„Das werdet ihr schon bald sehen,“ meinte Isobia geheimnisvoll.
So gingen sie noch ein weiteres Stück durch den Wald, bis sie zwischen einigen Bäumen auf einmal einen grünlichweissen, magischen Schimmer wahrnahmen. „Dort hinten ist er!“ sprach die Fee „Wer denn?“ wollte Julia mit klopfendem Herzen wissen. „Ein ganz besonderes, machtvolles Wesen,“ erklärte ihnen die Fee. „Es könnte evtl. sein, dass ihr ziemlich erschrecken werdet, wenn ihr es das erste Mal seht. Aber es gibt keinerlei Grund zur Furcht.“ Sie verschnellerte nun ihren Schritt und Julia und Daniel folgten ihr ein wenig atemlos.
Schliesslich traten sie auf eine grosse Lichtung hinaus und… die Turners blieben wie vom Donner gerührt stehen! Vor ihnen rage ein beinahe haushohes Wesen auf, das eine Mischung aus Adler und Löwe war. Sein Gefieder und sein Fell schimmerten in Schattierungen aus helleren und dunkleren Grüntönen und silbrigweissen. Es besass gewaltige Tatzen und Klauen und seine durchdringenden Augen erinnerten an glasklare Aquamarine. Diese richteten sich nun auf Benjamin und Pias Eltern und die Turners hatten das Gefühl, davon regelrecht durchbohrt zu werden. „W…was ist das?“ stotterte Daniel, der seine Stimme als erster wiederfand. „Ich bin ein Greif,“ erwiderte das majestätische Wesen mit tiefer, wohlklingender Stimme. „Genaugenommen der Luft- Greif. Ich erhielt vom Elementarfürst der Luft den Auftrag, mich um euch zu kümmern und euch in Sicherheit zu bringen. Denn als Eltern der grossen Führer habt ihr einen wichtigen Stellenwert. „Elementar…fürst…?“ fragte Vater Turner verwirrt. „Was… meinst du damit?“ Isobia sprach: „Jedes der vier Elemente, Wasser, Erde, Feuer und Luft hat sozusagen einen Vorsteher, dem alle dazugehörigen Elementarwesen unterstellt sind. Dieser Vorsteher ist ein sehr hohes Wesen.“
„So etwas wie ein Engel oder so?“ fragte Julia. „Ja, das könnte man so sagen. Jedenfalls sind diese Elementarfürsten sehr eng verbunden mit dem grossen, göttlichen Geist. Die Greife sind ebenfalls sehr hochentwickelte Wesen, die in direktem Kontakt mit den Elementarfürsten stehen.
Ihr könnt diesem Geschöpf also getrost vertrauen. Ich werde euch jetzt verlassen.“
„Du… gehst schon wieder?“ fragte Julia etwas unangenehm berührt und warf einen furchtsamen Blick auf das mächtige Mischwesen. Dieses sprach etwas ironisch: „Ihr müsst keine Angst vor mir haben. Ich habe nur die allerbesten Absichten und dazu gehört nicht, dass ich euch auffresse.“
„Na, hoffentlich auch nicht!“ entfuhr es Julia. Die scharfen Adleraugen des Greifen richteten sich nun wieder auf sie und durchbohrten sie erneut. „Vertraut ihr mir etwa nicht?“
„Nun ja… schon… aber…“
„Also gut, dann steigt endlich auf! Euer Leben hängt schliesslich davon ab.“ „Ist denn unser Leben in so grosser Gefahr?“
„Klar! Sonst wäre ich doch nicht hier, um euch höchstpersönlich abzuholen.“ Der Greif legte sich nun ganz flach auf den Boden und bildete mit seinem Kopf erneut eine Art Brücke, damit die Turners gut aufsteigen konnten.
„Nur keine Angst!“ beruhigte sie Isobia erneut. „Ich befindet euch bei dem Greifen in den besten Händen. So lebt denn wohl!“
„Werden wir dich denn nicht wieder sehen?“ fragte Daniel bekümmert.
„Irgendwann bestimmt. Doch noch kann ich nicht sagen, wann genau. Es gibt gerade sehr viel zu tun für mich. Ich wünsche euch viel Glück!“ Mit diesen Worten verschwand die Wanderfee, so schnell, wie sie gekommen war.
Daniel und Julia schauten etwas perplex auf die Stelle, auf der die Fee gerade noch gestanden hatte.
„Feen wie Isobia können unglaublich schnell verschwinden und aus dem Nichts wieder auftauchen,“ meinte der Greif. „Macht euch keine Sorgen deswegen. Sie wird auf jeden Fall weiterhin ein Auge auf euch haben. Aber nun bin erst einmal ich für euch zuständig. Wollt ihr jetzt auf meinen Rücken steigen?“
Noch einen Moment lang zögerte das Ehepaar, doch dann machte Daniel den Anfang und begann mit dem Aufstieg. Julia tat es ihm schliesslich nach. Als sie bequem sassen rief der Greif: „Dann haltet euch jetzt gut fest! Es geht los!“ Er begann nun mit seinen gewaltigen Schwingen zu schlagen und Benjamin und Pias Eltern spürten deutlich den dadurch entstandenen Luftzug. Noch ziemlich verkrampft hielten sie sich an dem grün- silbernen Gefieder des Mischwesens fest und als dieses nun vom Boden abhob, schlossen sie ängstlich ihre Augen. Wohin würde sie der Greif wohl bringen?