Es war ein schöner, klarer Morgen, als die fünf Reisenden wieder aufbrachen. Ziemlich bald trennten sich ihre Wege jedoch. Sturmius wendete sich in Richtung seines Heimatdorfes, Zyklopus machte sich wieder auf zum Xandrax Tempel und die anderen schlugen den Weg in Richtung des Gebirges ein.
Man konnte heute dessen graue Gipfel, besonders deutlich erkennen. Sie glänzten im sanften Morgenlicht. Sebius blickte träumerisch in die Ferne und sprach: „Früher, als ich noch ganz jung war, schürfte ich, hoch in diesen Bergen, einst nach Silber. Wir haben unglaublich viel von diesem Metall hier in unserer Welt. Wir benutzen es für alltägliche Dinge wie Besteck, Geschirr, Ziergegenstände usw. Es ist nicht sonderlich wertvoll, aber vielseitig verwendbar.“
„In unserer Welt ist Silber schon ziemlich wertvoll,“ meinte Pia „wenn auch lange nicht so wertvoll, wie z.B. Gold.“
„Gold haben wir hier, soviel ich weiss, keines.“
„Im Land der hundert Juwelen gibt es wiederum eine Menge Gold,“ meinte Malek. „Sein Marktwert ist zwar nicht besonders hoch, aber es ist sehr schön anzuschaun, besonders in Kombination mit den verschiedenen Edelsteinen.“
„In der Menschenwelt gibt es Leute, die würden für Gold sogar töten und bei euch hat es so einen geringen Wert,“ sprach Benjamin ironisch.
Sebius meinte: „Das jemand überhaupt für irgendwelche Edelmetalle töten könnte, ist für uns Zwerge unvorstellbar. Das alles sind doch vergängliche Werte. Es gibt viel Wichtigeres auf der Welt.“
„Da hast du natürlich recht,“ stimmte Malek ihm zu.
Pia fragte: „Meint ihr dieser Greif hat wirklich goldene Federn?“
„Zumindest sagte unser Priester Appolonius das,“ erwiderte Sebius.
„Ich hoffe nur, er ist uns gut gesinnt,“ meinte Benjamin.
„Ich glaube schon.“
„Mir ist manchmal schon etwas mulmig bei dem Gedanken, so ein mächtiges Wesen in seiner Ruhe zu stören.“
„Ich glaube nicht, dass wir uns da grosse Sorgen machen müssen,“ meinte Pia. „Immerhin sind die Greife dem grossen Schöpfergeist treu ergeben und halten bestimmt nichts von diesem Götzenkult um Xandrax.“
„Ich hoffe es,“ mischte sich nun auch Malek ins Gespräch. „Es wäre natürlich von Vorteil, wenn wir dieses Mischwesen für uns gewinnen könnten. Er wäre wohl das einzige Geschöpf, das diesen Xandrax Fanatikern wirklich die Stirn bieten könnte.“
„Nun, dann hoffen wir mal, dass wir Glück haben,“ meinte Sebius nachdenklich.
Schliesslich wurde es wieder Abend und die Freunde beschlossen noch einmal an einem windgeschützten Platz zu rasten. Malek sorgte für ein weiches, warmes Lager, ein wohliges Feuer und genug zu Essen.
Später sassen die vier dann noch zusammen und unterhielten sich ein wenig. „Ist schon grossartig, wenn man eine Magier wie Malek als Begleiter hat,“ meinte Sebius an die Geschwister gewandt, während er an seiner, eben entzündeten Backpfeife zog, deren Rauch ausstiess und gedankenverloren zusah, wie er sich vor dem vollen Mond ausbreitete. „In unserem Volk, gibt es kaum Zauberer.“
„Dafür habt ihr umso mehr Seher. Das ist doch auch etwas sehr Nützliches,“ entgegnete Pia.
„Manchmal allerdings, kann es auch ein Fluch sein, wenn man zu früh weiss, was alles noch geschehen wird. Gerade vorhin als ich ins Feuer blickte, hatte ich wieder eine beängstigende Vision. Ich sah grosse Gefahr drohen.“
„Gefahr? In Bezug auf uns?“
„Nein…, eher in Bezug auf Zyklopus.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Ben besorgt. „Wird er uns womöglich doch verraten?“
„Nein. Im Gegenteil! Gerade weil er uns hilft, schwebt er in so grosser Gefahr.“
„Meinst du damit, man wird ihm auf die Schliche kommen?“ „Ja. Aber zum Glück nicht sogleich. Ein Bisschen Zeit hat er noch.“
„Ich hoffe nur alles geht gut,“ meinte Pia tief besorgt. „Vielleicht hätten wir ihn doch nicht zum Spionieren schicken sollen?“
„Ich weiss nicht, ob er sich von uns davon hätte abhalten lassen,“ erwiderte Malek. Dann wandte er sich an Sebius. „Wieviel Zeit bleibt ihm noch?“ „Zwei, vielleicht drei Tage.“
„Oh, das ist nicht mehr lange. Dann sollten wir uns etwas beeilen. Gleich vor Sonnenaufgang, werden wird Morgen wieder aufbrechen! Hast du sonst noch etwas gesehen Sebius?“ „Als ich vorhin den Rauch meiner Pfeife ausstiess und dieser sich vor dem Mond ausbreitete, kam es mir auf einmal vor, als würde da noch etwas auf uns warten. Der Rauch wirkte wie ein Schleier, welcher noch irgendetwas verbirgt, dass ich gerade nicht einzuordnen vermag. Es kommt irgendeine Veränderung auf uns zu, aber was für eine Veränderung, das kann ich nicht wirklich sagen. Diese Veränderung betrifft aber vor allem das Zwergenvolk.“
„Tatsächlich? Und du weisst nicht, was es sein könnte?“
„Nein.“
„Ist es bedrohlich?“
„Das Gefühl, das ich beim Rauchen meiner Pfeife hatte, war eigentlich nicht sonderlich bedrohlich…“ Er seufzte: „Manchmal wünschte ich mir wirklich, dass meine Visionen teilweise klarer wären! Aber so ist nun mal das Los der Seher. Vieles müssen wir schliesslich doch wieder selbst herausfinden. Die Visionen streifen uns manchmal nur wie ein Schmetterlingsflügel, wecken unsere Aufmerksamkeit, wollen dass wir unsere Intuition einschalten. Das tun wir dann meistens, indem wir meditieren und im Reich der Geister nach weiteren Antworten suchen.“ „Haben dir die Geister schon irgendetwas über Xandrax und seinen Priester offenbart?“ wollte Benjamin wissen. „Bisher nur sehr spärlich. Allerdings ist eins sonnenklar: Etwas wahrhaft Böses, steckt hinter diesem seltsamen Kult und dessen Priester. Xandrax scheint auch tatsächlich nicht nur ein Götze zu sein. Er… ist mehr. Doch…, wenn ich die Geister dazu befrage, dann scheint es, als würden sie selbst vor Angst vor diesem falschen Gott erzittern. Ich kriege einfach nichts weiter aus ihnen heraus. Das ist sehr ungewöhnlich und… es macht mir grosse Angst.“ „Wenn ich dir so zuhöre,“ mischte sich Malek ins Gespräch „dann werde ich nur noch mehr in meiner Vermutung bestärkt, dass dieser Xandrax oder vielleicht auch sein Priester, zu den drei bösen Rittern gehören müssen. Sonst würden sich doch die Geister, die zu jeweils um Rat ersuchts, nicht so vor ihnen fürchten.“ Das kann gut sein…“ murmelte Sebius und stiess mit grüblerischer Miene erneut eine Rauchwolke aus. Wieder folgte er dieser und dann sah er auf einmal etwas! Seine Augen weiterten sich und er rief: „Da oben ist etwas! Schaut nur! Das ist… beim Schöpfer kann das wirklich sein?!“ Alle Augen richteten sich sofort auf den nächtlichen Himmel. Ein riesiges, geflügeltes Geschöpf schob sich auf einmal vor den Mond! Es war umgeben von einem goldenen, pulsierenden Kraftfeld, dessen Licht sich auf seinem bronzegoldenen Gefieder und dem glänzenden Fell widerspiegelte. Das Wese stiess einen lauten, kreischenden Schrei aus und drehte dann, mit mächtigen Flügelschlägen, einige Runden am Firmament. Man sah deutlich seine Silhouette mit den gewaltigen Löwenpranken und den, mit einem scharfen Adlerschnabel versehenen Kopf. „Das… ist der Greif!“ rief Pia begeistert. „Oh mein Gott! Ein wundervolles Geschöpf!“ „Aber auch ziemlich furchteinflössend, muss ich sagen,“ meinte Ben. „Wenn dieses Mischwesen schon aus der Ferne so eindrucksvoll ist, wie wird er dann erst aus der Nähe aussehen?“ „Ich weiss… ehrlich gesagt nicht, ob ich das wirklich herausfinden will,“ meinte Sebius unsicher. „Ach was!“ rief Pia. „Er wird uns bestimmt nichts tun! Schliesslich sind wir reinen Herzens und wollen ja dem Omniversum helfen. Das weiss er sicher.“ Malek meinte: „Wir sollten ihn auf jeden Fall nicht verärgern. Aber laut meiner Recherchen sind Greife, wie gesagt, im Grunde genommen friedliche Geschöpfe.“ „Nun… hoffen wir das Beste,“ gab Benjamin zur Antwort. „Weit kann es zu seinem Unterschlupf jedenfalls nicht mehr sein. Schaut, jetzt dreht er ab. Da hinten, bei jenem spitzen Berg dort, muss er seine Heimstatt haben. „Das liegt ganz nahe beim Geburtshügel,“ sprach Sebius. „Morgen Mittag sollten wir dort sicher ankommen, wenn nicht sogar früher. Doch jetzt brauche ich erst einmal eine Mütze Schlaf!“ Der Zwergen- Seher kratzte seine Backpfeife aus und verstaute sie wieder in seinem Rucksack. Dann legten sich die Freunde alle schlafen.