Erinnerungen aus ferner Zeit
Manuel
Noch eine Weile höre ich den Beratungsgesprächen der hier Versammelten zu, doch ich habe irgendwie ganz andere Dinge im Kopf. So ziehe ich mich leise zurück und schaue mich etwas im Schloss um. Eine grosse Ruhelosigkeit ist in mir und ich hoffe, irgendwo hier, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Meine Freunde, waren so in die Gespräche mit Lumniuz und den anderen vertieft, dass sie meinen Weggang nicht mal bemerkten. Nun, mir soll es recht sein.
Ich trete aus dem Speisesaal hinaus auf die Galerie und blicke nach oben. Über mir wölbt sich ein Dach mit wunderschönen Fresken und Schnitzereien. Ich verspüre einen unsagbaren Drang, auf die oberste Galerie zu gelangen. Bilder zucken an meinem inneren Auge vorbei, kaum wahrzunehmen und doch hinterlassen sie in mir ein Gefühl tiefer Geborgenheit, Vertrautheit und Wärme. Schon der grosse Speisesaal ist mir irgendwie bekannt vorgekommen und ich habe seit ich hier bin, immer wieder Gegenstände oder Dinge wahrgenommen, bei denen es mir erschien, als wären sie Teil einer verlorenen Erinnerung.
Langsam beginne ich die Treppe zu erklimmen. Ich sehe mir viele Räume an, welche unverschlossen sind: Die Küche, die Bibliothek und verschiedenste Aufenthaltsräume. Es ist wunderbar hier, all diese Räumlichkeiten…, sie entsprechen in ihrer Schönheit, Grosszügigkeit und Ambiente, genau meinem Geschmack. Als hätte ich selbst dabei geholfen, sie einst einzurichten. Begebenheiten kommen mir in den Sinn, die sich hier ereignet haben sollen, dabei bin ich doch noch nie an diesem wundersamen Ort gewesen!
Schliesslich erreiche ich die oberste Galerie und öffne die einzige Tür, die es dort gibt. Sogleich trete ich wieder hinaus auf eine Terrasse. Der Wind bläst hier ziemlich stark und vorsichtig gehe ich ans Geländer heran. Im ersten Augenblick taumle ich erschrocken zurück. Diese Terrasse liegt unglaublich hoch oben! Von hier erkennt man nur noch die Umrisse der Gebäude und Mauern. Die Menschen da unten sind kaum mehr zu sehen. Man kann weit über die Kristallberge hinweg, auf grüne Hügel, dichte Wälder und Täler blicken. Erst jetzt wird mir bewusst, wie grosse das Kristallreich eigentlich ist. Ich befinde mich nun fast auf der Spitze des Regenbogenturmes und auch hier kommt mir alles so vertraut vor. Über mir befindet sich eine Kuppel, auch sie müsste doch erreichbar sein! Und wieder glaube ich mich genau zu erinnern, wohin ich mich wenden muss. Ich gehe ein Stück um den Turm herum und erblicke nun eine weitere Tür, welche wieder in das Innere selbigen führt. Mein Herz klopft auf einmal bis zum Hals und eine unglaubliche Aufregung erfasst mich. Mir zitternden Händen greife ich nach der Klinke und… drücke sie langsam herunter. Es ist tatsächlich offen! Ich befinde mich nun in einem weiteren, grossen Raum, dessen Dach von der Kuppel gebildet wird. Überall stehen Regale mit Büchern, Steinen, allerlei Pulvern, Flüssigkeiten und Kräutern. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Feuerstelle, mit einem grossen Kochtopf. Ausserdem gibt es einen hölzernen Schüler- Pult, mit dazugehöriger Bank. Ich zittere als ich einige der Gegenstände berühre. Wie Blitze durchzucken Bilder der Erinnerung, mich dabei erneut. Was nur hat das zu bedeuten?
Eine Leiter führt vom Hauptraum aus, hinauf, auf eine Art Plattform, auf welcher eine riesiges Teleskop steht! Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, gehe ich zu der danebenliegenden Wand und drücke auf eine bestimmte Stelle. Sogleich öffnet sich die Kuppel wie ein Blütenkelch und gibt den Blick frei, auf den weiten Himmel über mir! Doch dann plagt mich doch das schlechte Gewissen und ich schliesse die Kuppel schnell wieder. Das alles ist so faszinierend, so vertraut!
Ich klettere wieder herunter und will mich wieder zum Gehen wenden, als meine Aufmerksamkeit auf einmal von einer unscheinbaren, niedrigen Tür an der Westseite des Raumes, in Anspruch genommen wird. Wie ferngesteuert gehe ich darauf zu und öffne auch diese Tür. Instinktiv streife ich meine Schuhe ab und betrete eine kleine, gemütliche Kammer, mit Kissen am Boden und einigen Kerzen, die spärliches Licht spenden. Tiefe Geborgenheit, wie ich sie bisher noch nie empfunden habe, ergreift mich und ich spüre förmlich die tief spirituelle Energie, welche an diesem Ort herrscht.
An der gegenüberliegenden Wand prangt eine riesige, gemalte Sonne. Ich taumle zurück und falle auf die Knie. Visionen erscheinen vor meine inneren Auge, voller Liebe, Schönheit und Frieden! Auf einmal sehe ich Pia und Benjamin vor mir, wie sie vor der Sonne knien, welche eindeutig das Grosse Göttliche darstellt. Auch andere Menschen erblicke ich, die hier schon mal in tiefer Andacht verweilt hatten. Und... auch wenn diese Visionen, Bestandteil einer anderen Realität zu sein scheinen, so fühle ich mich doch als Teil davon!
Auf einmal überkommt mich tiefe Rührung und ich beginne zu weinen. Warum das so ist, kann ich nicht wirklich einordnen. Was ist nur mit mir los, seit ich hier bin? Es ist als läge mein ganzes Wesen blank, als ob alle von mir errichteten Schutzmechanismen, wozu sie auch immer gedient haben mögen, zerfallen würden. Irgendwie habe ich Angst. Doch gleichzeitig bin ich auch unendlich glücklich. Diese Sonne an der Wand, sie strahlt tief in meine Herz hinein, scheint alle Regionen meines Seins zu durchdringen, zu durchleuchten und ich weiss noch immer nicht, was ich damit anfangen soll.
Erzähler
„Wo um alles in der Welt ist Manuel?“ Pia schaute sich nervös um. „Vor lauter Strategie- Gesprächen, haben wir gar nicht mehr auf ihn geachtet.“ „Bestimmt besichtigt er nur etwas das Schloss,“ sprach Malek beschwichtigend.
„Hoffentlich verirrt es sich dabei nicht oder betritt unerlaubte Räumlichkeiten.“
„Es wird schon alles in Ordnung sein,“ meinte Lumniuz gleichmütig. „Aber wenn ihr wollt, können wir ihn ja zusammen suchen.“ Der Erdgnom, die Geschwister und Malek waren nun wieder allein, denn Tartaloz und die anderen Gäste hatten sich zurückgezogen.
„Wo sollen wir zuerst nachsehen?“ fragte Benjamin.
„Kämmen wir doch einfach mal alle Galerien hier durch,“ schlug der Erdgnom vor.
In diesem Moment jedoch, tauchte Manuel auf der obersten Galerie auf und sie liefen ihm erleichtert entgegen. Als Manuel bei ihnen anlangte, stellten die Freunde jedoch fest, dass der Junge sehr aufgewühlt war. Pia sah sogleich, dass er geweint haben musste. Sie legte den Arm um ihn und fragte: „Was um alles in der Welt ist mit dir los? Warum hast du geweint?“ „Ich äh habe nicht…“ wollte Manuel verlegen einräumen, doch dann beschloss er doch offen zu sein.
Er erzählte alles was er gesehen und erlebt hatte und welche verwirrenden Gefühle ihn seit seiner Ankunft, im Kristallreich, beschäftigten.
Lumniuz wirkte etwas erschrocken: „Du warst im Raum der Stille?!“ „Jedenfalls war ich in diesem kleinen Raum mit den Kerzen und der Sonne an der Wand. Dort hatte ich dann auch diese Visionen.“
„Aber… dort, hättest du gar nicht hingehen dürfen ohne ausdrückliche Erlaubnis! Das war schon zu Ululalas Zeiten so und wir sind verpflichtet diese Regel weiterzuführen. Keiner der nicht in die nötigen Geheimnisse eingeweiht ist, darf sich dort drin aufhalten!“
„Es tut mir leid,“ sprach Manuel „aber irgendwas hat mich dazu veranlasst, dorthin zu gehen. Ausserdem waren alle Türen unverschlossen. All das hier… es ist mir so vertraut, es ist beinahe unheimlich. Ständig habe ich Erinnerungen, die ich eigentlich gar nicht haben dürfte, weil ich noch nie hier war.“
„Das alles klingt schon ziemlich seltsam,“ meinte Malek besorgt. „Wir sollten dieser Sache wirklich auf den Grund gehen.“
„Wie auch immer,“ protestierte der Erdgnom „Manuel hätte dort nicht reingehen dürfen!“
„Sei bitte nicht zu hart mit ihm,“ bat Pia „Manuel ist wirklich etwas Besonderes und wir sollten seine Gefühle und Erlebnisse ernst nehmen.“ „Ausserdem hat Ululala damals bei uns auch ein Auge zugedrückt,“ kam ihr Benjamin zur Hilfe. „Ich glaube nicht, dass dies jetzt so schlimm ist.“
„Bei euch war das etwas anderes, ihr wart ja auch die grossen Führer. Alle müssen sich sonst an diese Regeln halten, auch Manuel. Ich will doch nur das weiterführen, was mein Meister begonnen hat. Ich trage eine grosse Verantwortung, jetzt da Hungoloz noch krank wurde sowieso. Das Volk baut auf mich und ich will es nicht enttäuschen.“
„Das wirst du bestimmt nicht,“ sprach Pia „du machst deine Sache so gut.“ „Es tut mir wirklich leid,“ sagte Manuel erneut „ich wusste das alles nicht. Es wird nicht mehr vorkommen.“ Lumniuz Ausdruck wurde versöhnlicher. „Nun gut, was solls! Ich hätte es dir eben auch sagen müssen. Auch ich war in jüngeren Jahren ziemlich neugierig. Also Schwamm drüber!
So nun sollte ich euch aber mal zu Hungolz führen, vielleicht haben wir Glück und er hat eine seiner seltenen Wachphasen.“ .
„Wenn er noch Wachphasen hat, ist seine Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten,“ sprach Malek „Ich werde ihn mir mal ansehen und schauen, was ich für ihn tun kann.“
Wiedersehen mit Hungoloz
Erzähler
Hungoloz lag in einem breiten, weichen Bett. Leise traten die Freunde näher.
„Ich habe ihm ab und zu etwas von meiner Lebensenergie geschenkt,“ flüsterte Lumniuz. „Nur bin ich leider in diesen Dingen nicht so bewandert wie du Malek. Möglicherweise kannst du ihm besser helfen.“
„Ich werde es versuchen,“ erwiderte der Magier und ergriff die kalten Hände des Waldelfen. Dieser schien in tiefem Schlaf zu liegen. Pia und Benjamin fühlten sich auf einmal traurig und hilflos. Warum nur, musste alles so schwer sein? Malek konzentrierte sich nun und liess einen Teil seiner Energie, dem Kranken zufliessen.
Und... auf einmal öffnete der Waldelf die Augen! Als er Pia, Benjamin und die anderen erblickte, glitt ein mattes Lächeln über seine bleiches Gesicht. Malek liess ihn nun wieder los und sank in die Knie. Er fühlte sich müde… so müde!
„Malek…! sprach der Waldelf besorgt, „du hast mir von deiner Kraft geschenkt, vielen Dank!“
„Gerne geschehen mein Freund, ich muss… mich nur etwas ausruhen." Die Augen des Elfen, blieben nun an den Geschwistern hängen.
„Pia… Benjamin… seid ihr das?“
„Ja, wir sind es!“ sprach Pia, setzte sich an den Bettrand und nahm die Hände von Hungoloz in ihre. „Wir sind zurückgekehrt! All das… es tut uns so leid!“
„Schon gut! Alleine, dass ihr wieder zurückgekehrt seid, ist wichtig. Wie erwachsen ihr geworden seid und so… hübsch.“ Seine grossen, goldenen Augen, musterten Pia eingehend. „Wie alt seid ihr nun?"
"33 und 35!“ „
Das ist lustig! Ihr seid jetzt sogar älter als ich.“
„Sieht wohl so aus!“ lächelte Pia. Dann fragte sie: „Wie geht es dir?“
„Naja, nicht besonders. Ich… kann… einfach nicht wach bleiben.“
„Hast du Schmerzen?“
„Nein, eigentlich nicht, mir ist manchmal nur so übel und wenn ich schlafe ist das…" Er schien nach Worten zu suchen „....als ob ich ganz woanders wäre.“
„Ist es… schön dort?“ „Manchmal ja, manchmal nein. Es ist… komisch.“ Er umfasste nun Pias Hände fester. Er war nun 26 Jahre alt und wäre er nicht so mager gewesen, hätte man ihn als wirklich gutaussehend bezeichnen können. Seine Augen waren besonders! Es wirkte stets, als würden in ihren bernsteinfarbenen Tiefen, goldene Funken tanzen.
Pia musste auf einmal an die Goldene Tanne denken, den weisen Baum, von welchem ihnen Hungoloz einst einen Zapfen geschenkt hatte und den sie dann einsetzten, um den Fortbestand dieser Baumes zu sichern. Die Augen des Elfen, waren genauso golden, wie die Nadeln der Tanne. Pia konnte die Tränen auf einmal nicht mehr zurückhalten. Warum nur, hatte alles so kommen müssen? Es war so schrecklich zu sehen, wie das Leben immer mehr aus Hungolz‘ Körper strömte. Dabei war er noch so jung und sie hätte ihn so gerne endlich etwas näher kennengelernt.
„Weinst du etwa um mich?“
„Natürlich! All das tut mir so unendlich leid!“
„Das wird schon wieder!“
„Eigentlich sollte ja ich dich trösten, nicht du mich!“ lächelte Pia unter Tränen.
Die goldenen Augen des Elfen, fixierten nun die Frau. „Du bist wunderschön, wie ein Engel! Als wir uns kennen lernten, warst du irgendwie noch so… klein. Aber jetzt bist du eine erwachsene Frau. Wie schnell die Zeit in der Menschenwelt vergeht. Ich habe ziemlich oft an dich gedacht…“
Ein Hustenanfall unterbrach die Worte des Waldelfen und Pia half ihm sich etwas aufzurichten.
„Ich habe auch oft an dich gedacht Hungoloz,“ sagte sie dann leise.“
Die Augen des Elfen leuchteten kurz vor Freude auf. Doch dann wurden sie wieder traurig. „Und ausgerechnet jetzt, wo ihr zurückkehrt, müsst ihr mich in diesem Zustand antreffen.“
„Das wird schon wieder, wir werden alles daran setzen, dass du und auch die anderen, wieder gesund werden! Wir wissen wo wir das Heilmittel herbekommen.“
„Es gibt ein Heilmittel?“ Erleichterung zeichnete sich im Gesicht von Hungoloz ab.
„Ja, wir müssen dafür jedoch in die Feuerwelt. Wir haben bereits einen Plan. Nur keine Sorge!“
„Das sind ja wenigstens mal gute Nachrichten. So seid ihr also wieder hergekommen um die Welt, ein weiteres Mal, ein Stück besser zu machen.“ „Wir hoffen es gelingt uns, aber jetzt zählt erst mal, dass du gesund wirst. Ruh dich jetzt wieder aus!“
Hungoloz nickte, schloss die Augen und war sogleich wieder eingeschlafen. Pia drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und die Freunde verliessen den Raum wieder.