Am nächsten Morgen, wachten die drei Freunde unversehrt wieder auf. Sie streckten sich und gähnten, dann erhob sich Benjamin als Erster.
Er ging zum Zelteingang und blickte nach draussen. Das Gewitter hatte in der Nacht irgendwann aufgehört und die Luft war nun wieder frisch und durchwebt vom sanften, goldenen Licht der Sonne. Überall auf Gräsern und Blättern lagen noch einige Regentropfen, welche wie kleine Diamanten funkelten.
„Heute ist es wieder schön. Ich hoffe das bleibt so!“ meinte Benjamin und kroch aus dem Zelt. Der Boden war noch nass.
„Ich mache uns mal ein Feuer!“
Schlaftrunken erhoben sich nun auch die anderen beiden. Ihre Augen waren noch ganz klein und ihre Haare zerzaust. Sie setzten sich zu Benjamin.
„Was gibt es eigentlich diesmal zum Frühstück?“ wollte Pia an Malek gewandt wissen.
„Wie wäre es mit Rührei?“
„Eine gute Idee.“
Sogleich zauberte der Magier einige Eier herbei. Aus seinem Beutel holte er etwas Gewürz und eine Pfanne hatte er schon am Abend zuvor bereitgestellt. Er schlug die Eier auf und kurz darauf taten sich die drei Gefährten an einem leckeren Rührei gütlich. Dazu assen sie etwas Dörrfleisch und die restlichen Karotten.
Schliesslich machten sie sich wieder auf den Weg. Die Umgebung wurde nun immer felsiger und es gab nur noch karge Vegetation. Auf einmal hielt Malek inne. „Da drüben! Was ist das für eine seltsame Wolke? Sie scheint irgendwie von innen heraus zu leuchten und es wirkt als tobe ein kleines Gewitter darin.“
„Das könnte unter Umständen ein Zeichen für die Gegenwart eines Greifs sein,“ sprach Pia aufgeregt. „Schauen wir doch mal nach!“
„Dort hinter jenem Hügelkamm muss es sein!“ rief Ben und verschnellerte seinen Schritt.
Kurz darauf erblickten sie vor sich einen mächtigen Höhleneingang. „Die seltsame Wolke steht darüber!“ freute sich Malek. „Der Greif muss dort drin sein!“
Sie gingen schnellen Schrittes weiter, bis sie den Höhleneingang erreichten. Dann jedoch zögerten sie. Ehrfurcht und eine gewisse Unsicherheit ergriff sie plötzlich wieder. Wie würde der Greif wohl reagieren, wenn sie in sein Revier eindrangen? Würde er sie vielleicht sogar angreifen oder würde er ihnen von Anfang an freundlich begegnen?
Sie dachten an die Worte zurück, die ihnen einst der goldene Erdengreif gesagt hatte: „Denkt immer daran, dass ich von nun an über euch wachen werde, denn wer einst die Freundschaft eines Greifs gewonnen hat, steht immerwährend unter seinem Schutz!“ Ob wohl der Feuer- Greif schon von diesem Versprechen wusste?
„Wir sollten uns ab hier etwas langsamer fortbewegen,“ flüsterte Malek. Nicht dass wir das Mischwesen noch erschrecken und er vielleicht doch aggressiv reagiert.“
Die Geschwister nickten zustimmend.
Langsam, ganz langsam, setzten sie ihren ersten Fuss auf den Boden der Grotte. Es war wirklich eine eindrucksvolle Tropfsteinhöhle. Von der Decke herab, hingen zahlreiche Stalaktiten. Unvermittelt mussten die Geschwister an ein Erlebnis denken, das sie gehabt hatten, als sie einst zusammen mit Lumniuz in so einer Höhle gewesen waren.
„Nun sollten wir nochmals eine Fackel entzünden,“ sprach Lumniuz zu den Geschwistern. „Wir kommen jetzt wieder in eine besonders schöne Grotte. Sie ist voll mit besonderen Tropfsteinen.“
Die Fackel entflammte und voller Staunen blickten Pia und Benjamin hinauf zur Decke. Diese war über und über mit schmalen Tropfsteinen geschmückt. Sie erinnerten irgendwie an Eiszapfen, die aber aus milchigweissem, glatten Material bestanden.
Auch rechts und links am Boden befanden sich solche Gebilde.
„Das ist wunderschön,“ flüsterte Pia. „Das stimmt. Wollen wir hier mal eine kleine Rast machen?“ fragte Lumniuz. „Haben wir denn Zeit?“ „Ja. Noch ein wenig. Habt ihr vielleicht Hunger?“ „Allerdings!“ „Na gut.“ Lumniuz lehnte sich aus dem Boot und warf den daran befestigten Strick um einen der breiteren Stalaktiten.
Behände sprang er aufs Trockene und war dann auch den Geschwistern beim Aussteigen behilflich. Gemütlich setzten sie sich hin und assen etwas von ihrem Proviant. Dabei ahnten sie nicht, was sie noch erwarten würde...
Auf einmal nämlich begann die ganze Höhle zu beben. Zuerst nur wenig, dann immer heftiger. Sie sprangen entsetzt auf, als auch schon die ersten spitzen Tropfsteine herabfielen. Maleks Fluch hatte sie erreicht. „Raus hier!“ schrie Lumniuz und stiess die Geschwister durch eine schmale Felsspalte in der Wand.
Immer weiter bebte es und man hörte das Klirren der herunterfallenden Stalagmiten. Sie befanden sich in einer winzigen Nische, die keinen andern Ein und Ausgang besass. Wie Ratten in der Falle! „Hoffentlich wird der Ausgang nicht verschüttet,“ sprach Lumniuz und begann etwas in einer fremden Sprache zu murmeln, dass wie ein Hilferuf klang.
Endlich hörte das Beben auf. Der Ausgang war zum Glück offen geblieben. „Dank dem Schöpfergeist!“ rief Lumniuz und trat hinaus ins Freie. Die Geschwister folgten. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihnen dar. Fast alle Tropfsteine, waren heruntergefallen. Alles war übersäht mit ihnen.
Damals war Malek noch ihr Feind gewesen. Zum Glück aber, waren die Stalaktiten hier nicht ganz so spitz und schmal, wie damals in der Spaghetti- Grotte. Eher etwas breiter und massiver. So schnell konnten die, auch durch sonst ein Beben, nicht herunterfallen.
Ausser sie entfesselten den Zorn des Greifen aus irgendeinem Grund. Diesen Gedanken verdrängten sie jedoch sogleich wieder, denn immerhin hatten sie ja ein reines Gewissen und auch wenn der Greif ihre Schwächen erkennen würde, so würde er auch ihre gute Absicht erkennten, so wie es einst auch beim Erden- Greif der Fall gewesen war.
Sie entzündeten eine Fackel und gingen immer weiter in die Höhle hinein. Neben den etwas filigraneren Stalaktiten, gab es hier auch eine Menge Stalagmiten, die vom Boden herauf wuchsen. Diese hatten teilweise bizarre Formen. Das Licht der Fackel glitt über ihre glatte, weissliche Oberfläche, die dadurch beinahe transparent wirkte.
„Schon unglaublich, wie lange es braucht, um so eine Höhle entstehen zu lassen,“ sinnierte Malek. „Diese Tropfsteine sind oft Tausende von Jahren alt. Sie sind wahrlich magisch und bergen in sich das Wissen so mancher Zeiten. Vermutlich fühlt sich der Greif auch deswegen so wohl hier. Weil er selbst ein uraltes Wesen ist.“
Malek ging zu einem der grösseren, etwas älteren Stalagmiten, der bereits aufgehört hatte zu wachsen und legte seine Hand darauf. Dann schloss er die Augen. „Ich höre tatsächlich sein Raunen,“ sprach er überrascht.
Auch die Geschwister versuchten nun die Stimme des besonderen Gebildes zu hören, indem sie ihre Hände darauf legten. Doch sie hörten überhaupt nichts. Dennoch spürten sie die uralte Kraft, die in dem Stalagmiten schlummerte und schon das allein bewegte sie sehr.
„Was… äh… sagt er denn?“ fragte Pia neugierig, an Malek gewandt.
„Ich befragte ihn gerade darüber, wo der Greif sich aufhält, und er hat mir geantwortet.“
„Das ist schon etwas sehr Besonderes,“ sprach Benjamin beeindruckt. „Also ich kann nicht mit diesem Stalagmiten sprechen.“
„Keine Ahnung, warum ich es überhaupt kann,“ gab der Magier zurück und erhob sich nachdenklich wieder.
„Aber die Geschichten, die mir diese Gebilde zu erzählen vermögen, sind wahrhaft unglaublich. So eine Tropfsteinhöhle ist wohl schon deswegen ein ganz besonderer Kraft- Ort.“
„Das kann ich mir gut vorstellen,“ pflichtete ihm die Frau bei. „Schliesslich soll ja alles in der Schöpfung belebt sein, warum also diese Tropfsteingebilde nicht auch?“
Malek erwiderte: „Ich weiss nicht, ob es wirklich eine Seele ist, die in diesen Tropfsteinen wohnt. Mir erscheint es eher wie ein Wissensspeicher, in dem alles festgehalten ist, das einst war und noch ist. Es ist aber eine ganz andere Energie als bei den Edelsteinen oder Felsen. Jetzt aber erst einmal fertig mit Stalagmiten geplaudert! Ich weiss jetzt, welchen Gang wir nehmen müssen, um zu dem Greif zu gelangen. Es gibt nämlich gesamthaft drei Gänge, die in unterschiedliche Regionen der Höhle führen. Der Greif befindet sich in der sogenannten Dom- Höhle und um dort hin zu kommen, müssen wir den Gang direkt vor uns nehmen.“
„Und das alles hat dir dieser Stalagmit bzw. sein Wissensspeicher gesagt?“ „Ja… irgendwie schon. Ich sah einfach auf einmal ein Bild vor mir, das mir den genauen Weg zeigte. Auch das Bild und den Namen der Dom- Höhle erschien plötzlich vor meinem inneren Auge.“
„Schon ziemlich verrückt!“ meinte Ben, was ihm einen etwas vorwurfsvollen Blick von Pia einbrachte.
Malek schien dem jüngeren Mann seine Bemerkung jedoch nicht übel zu nehmen und er grinste etwas schief. „Ja, dem kann ich nicht widersprechen. Ich habe jedenfalls noch nie von einem Magier gehört, der mit Tropfsteinen sprechen kann. Eine ganz neue Gabe, die ich da an mir entdecke.“
„Auf jeden Fall eine Nützliche,“ sprach Pia „jetzt wissen wir wenigstens, welchen Abzweiger wir nehmen müssen. Vielleicht hätten wir uns sonst noch in dieser Höhle verlaufen. Hört ihr schon irgendetwas von dem Greifen?“
Alle lauschten angestrengt, doch nichts war zu hören, ausser dem Plätschern eines kleinen Bachlaufes, der ihren Weg entlang floss und dem leisen Tropfen des herabfallenden, kalkhaltigen Wassers, welches die Tropfsteine mehr und mehr wachsen liess.