Als sie fertig gekocht hatten, setzten sich die beiden zusammen an den hölzernen Tisch und die Greifen Frau meinte: „Nun, was würdest du denn gerne über deine frühere Existenz als Ululala erfahren?“
Manuel überlegte einen Moment, dann stellte er die erste Frage, die ihm gerade einfiel: „Wie alt bin ich als Ululala eigentlich geworden?“
„Etwas mehr als1500 Jahre.“
„Waas so alt? Da muss ich mir ja einiges an Wissen und auch Weisheit angeeignet haben.“
„So ist es tatsächlich. Du warst eine beeindruckende Persönlichkeit, welche das Leben vieler Geschöpfe sehr stark geprägt und bereichert hat.“
„Aber, das kann ich mir kaum vorstellen, wenn ich so darüber nachdenke, wie schwer ich mich, in diesem Leben, mit einigen Dingen tue.“
„Das hat auch mit dem Vergessen zu tun. Nun wirst du dich jedoch immer mehr erinnern. Je mehr du zu dir selbst findest, umso mehr, werden sich dir die Fähigkeiten deiner früheren Leben offenbaren. Es ist ähnlich wie bei einer Orange. Noch umgibt dich eine dicke Haut, welche dich noch von deinem wahren Wesen abtrennt. Das hat auch seine Richtigkeit so. Doch mehr und mehr wirst du diese Schale nun aufbrechen und Schicht um Schicht weiter in deinen Kern vorstossen.“
„Das hoffe ich natürlich sehr, denn wie gesagt, ich bin noch lange nicht so weit auch nur einen Bruchteil der Weisheit, meines vorherigen Lebens, in mir wiederzufinden.“
„Damit liegst du allerdings falsch,“ gab seine Mentorin ernst zurück. „Du hast bereits viele dieser wundervollen Qualitäten entwickelt. Es ist dir nur noch nicht bewusst, weil du dich als ganz normal und durchschnittlich betrachtest. Das bist du jedoch nicht. Schon als Ululala haben wir Greifen dir das oft gesagt. Aber genau diese Bescheidenheit machte und macht deine wahre Grösse aus. Erkenne diese Grösse an, denn du bist kein durchschnittlicher 20- jähriger Junge, du bist so viel mehr! Deine Seele ist uralt und beherbergt das Wissen von Äonen.“
„Aber wie kann ich jemals Zugang zu diesem Wissen finden?“ fragte Manuel hilflos.
„Indem du dir deines wahren Wertes vollends bewusst wirst,“
„Das ist leichter gesagt als getan.“
„Eigentlich könnte es ganz leicht sein. Vor allem die Menschen neigen aber immer dazu, es sich oft schwerer als nötig zu machen. Sie haben Angst davor, in ihre eigene Grösse zu wachsen. Dabei sind sie schon immer Teil des grossen, göttlichen Geistes gewesen. Sie sind einzigartige Wesen, die sich dazu bereiterklärt haben, in einer besonders schwierigen Ebene, wie der Erde, ihre Lektionen zu lernen. Auch du hast dich damals als Ululala dazu entschieden, in deiner nächsten Inkarnation Mensch zu werden. Dafür gab es einen guten Grund. Du wolltest miterleben, wie sich das Omniversum endgültig verwandelt, wolltest Teil davon sein und Pia und Benjamin auf ihrem Wege beistehen. Mit diesem Vorhaben bist du, nach deinen Tod als Ululala, deshalb sogleich wieder auf der Erde inkarniert.“
Manuel spürte auf einmal wieder Schuldgefühle in sich aufsteigen. „Ja…“ sprach er leise „und…dennoch habe ich Pia und Benjamin schliesslich im Stich gelassen. Wie gesagt, ich habe versagt.“
„Das hat nichts mit versagen zu tun, sondern mit dem Trauma, dass du durch den Tod deiner Eltern und dessen mangelnder Verarbeitung erlitten hast. Darum gehe nicht stets so hart mit dir ins Gericht! Damit ist niemandem gedient, am allerwenigsten dir selbst.“
Manuel wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, weil er das alles zwar verstand, aber noch nicht wirklich verinnerlichen, noch nicht wirklich empfinden konnte.
So sprach die Greifen Frau: „Du bist müde. Ich glaube, es wird Zeit, dass du ins Bett gehst. Morgen sieht alles wieder anders aus.“
Manuel nickte etwas halbherzig, erhob sich und trug das Geschirr ihres Abendessens zur Spüle. Die beiden Wölfe kamen sogleich zu ihm und schmiegten sich an seine Beine, als wollten sie ihn trösten. Er streichelte sie liebevoll und sprach dann an seine Mentorin gewandt: „Vermutlich hast du recht. Ich sollte wirklich schlafen. “
„Ich werde dich über Nacht verlassen, aber Morgen um 9 Uhr, komme ich wieder zurück, dann werden wir weitersehen.“ Die Greifen Frau legte ihm nochmals tröstend ihre weiche, feingliedrige Hand auf die Schulter, dann war sie verschwunden.
Manuel seufzte tief und räumte noch alles fertig auf. Dann legte er sich schlafen. Lange konnte er jedoch keine Ruhe finden, wälzte sich unruhig hin und her. Jetzt da er über all das nachdachte, was er heute mit der Greifen- Frau angeschaut hatte, kamen ihm auf einmal wieder Zweifel, ob dies alles auch wirklich etwas brachte. Würde er jemals so weit sein, dass er sich voll und ganz von seinen inneren Schatten und Blockaden würde befreien können? Würde er jemals all die Prüfungen bestehen, die noch vor ihm lagen? Wenn er an die Kämpfe dachte, die er schon bald ausfechten musste, ergriff ihn grosse Furcht. So lange er nicht wahrhaftig in Verbindung mit seinem alten Leben als Ululala war und dessen magisches Potenzial vollends entfalten konnte, war das alles doch zum Scheitern verurteilt.
Die Greifen hatten ihm gesagt, dass er sich vermutlich im März bzw. April, seinen mächtigsten Feinden stellen musste. Diese Zeit war dafür ausersehen worden, weil dann alles wieder zu neuem Leben erwachte und das Licht in der irdischen Welt an Kraft gewann. Das schwächte jene, die der Dunkelheit und der Finsternis dienten.
Die Energien in der Frühlingszeit, waren meistens etwas höherschwingend, denn dann war auch die Menschheit allgemein positiver gestimmt. In der Frühlingzeit hob sich das kollektive Bewusstsein also etwas an und das würde Manuel bei seinem Kampf, im Dienste der lichtvollen Mächte, zusätzlich unterstützen. Das bedeutete aber auch, dass der zukünftige Fürst der neuen Welt nur noch ungefähr zweieinhalb bis drei Monate Zeit hatte, um alles zu lernen, was es zu lernen gab. Dieser Zeitdruck machte ihm ziemlich zu schaffen. So faltete er seine Hände und bat das Göttliche um Beistand und Zuversicht.
Und tatsächlich wurden seine Gebete auch erhört, denn ihm wurde ein besonderer Traum zuteil...