Es dauerte nicht lange, da trat Zyklopus in den, mit dunklen Kerzen erleuchteten Tempel. Etwas unsicher blieb er einen Moment lang, neben dem Eingang, stehen. Hoffentlich wirkte der Täuschungszauber, den Malek auf ihn gewirkt hatte auch! Er blickte sich eingehend um.
Neben der dunklen Statue, hinter der sie sich vorhin versteckt hatten, befand sich noch eine viel grössere, vorne beim Chor. Sie zeigte eine schreckliche Gestalt mit einem unheimlichen Skeletthelm auf dem Kopf. Hinter welchem, zwei beinahe lebendig anmutende, rötliche Augen, hervorblitzten. Die Statue trug einen langen Mantel und ihr durchdringender Blick schien auf den Anwesenden zu ruhen. Dieser Blick, auch wenn er aus künstlichen Augen kam, ging einem durch Mark und Bein. Zyklopus wusste nicht recht, ob es sich bei der Statue um die Darstellung eines Ritters, eines Magiers oder sogar eines Priesters handelte. Nun… unheimlich war sie auf jeden Fall.
Auf einmal zuckte der, gerade eingetroffene Riese, zusammen, denn die Stimme des Priesters, der die Predigt hielt, rief plötzlich laut: „Aha! Ein weiteres Schäfchen, das nach der ewigen Wahrheit sucht! Tritt näher! Tritt näher!“ Dabei machte der Redner mit seinem rechten Arm eine einladende Geste.
„Danke…,“ murmelte Zyklopus und hoffte, dass die anderen Anwesenden sein rasend klopfendes Herz nicht hören konnten. „Ich hörte, dass hier der einzig wahre Riesen- Gott Xandrax verehrt wird.“
„Damit liegst du goldrichtig!“ rief der Redner salbungsvoll. „Da vorne hat es noch einen Platz! Setz dich doch!“ Zyklopus liess sich etwas schwerfällig auf die hölzerne Bank fallen. Einige der anderen Riesen nickten ihm zu um ihn willkommen zu heissen, doch es schien nicht, als würde ihn jemand erkennen.
Das knochige Gesicht des Priesters, verzog sich nun zu einem, irgendwie unechten, Lächeln. Als wüsste er gar nicht, wie man wirklich lächelte. Das beunruhigte Zyklopus sehr. Wer war dieser Kerl? Woher war er gekommen und was hatte er genau vor? Der Priester fuhr fort: „Wir freuen uns immer über neue Mitglieder, welche Xandrax dienen wollen. Ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr unserem grossen Weltenerschaffer die Ehre erweist!“
Eine Frau, die neben Zyklopus sass flüsterte: „Xandrax ist wirklich sehr mächtig und stattlich. Die Statue dort vorne beim Chor soll sein Ebenbild sein.“
Zyklopus versuchte seine Abscheu zu verbergen und möglichst interessiert zu wirkten. „Ja, wirklich sehr stattlich. Nun ja, er ist ja auch ein Riesen- Gott! So ein stattliches Volk wie wir es sind, hat natürlich auch einen stattlichen Gott verdient! Nicht wahr?“
„Genau!“ erwiderte die Frau eifrig. „Da bin ich ganz eurer Meinung. Irgendwann werden alle begreifen, dass wir das auserwählte Volk sind!“ „Das… will ich doch hoffen,“ log der Angesprochene. Er musste von möglichst vielen, der anderen Riesen, das Vertrauen gewinnen, um mehr über Xandrax zu erfahren und vor allem… über dessen zwielichtigen Priester. So hörte Zyklopus der Predigt desselbigen, scheinbar gebannt zu.
Nach der Messe versammelten sich die Riesen nochmals draussen vor dem Tempel und es wurden fässerweise Met ausgegeben. Die Stimmung stieg dadurch und Zyklopus musste zugeben, dass es schon sehr schön war, mit seinesgleichen so in Eintracht zusammen zu sein. Das gab es sonst nirgends auf diese Weise und es stärkte den Zusammenhalt. Das war vermutlich mit ein Grund, warum so viele seiner Artgenossen so gerne hierherkamen. Der Priester war ein interessanter Gesprächspartner, doch irgendetwas lag in seinem Blick, in seinem ganzen Gebaren, das Zyklopus einfach nicht gefiel. Der Gedanke dies alles könnte nur eine Taktik sein, um die Riesen auf die neue Lehre einzuschwören, liess ihn einfach nicht los.
Als der Priester sich dann sogar zu ihm gesellte und mit ihm zu plaudern begann, wurde Zyklopus immer nervöser. Doch mit aller Macht versuchte er seine Unsicherheit zu verbergen. „Nun?“ fragte der Priester ihn. „Gefällt es dir unter den Fittichen unseres grossen Gottes Xandrax?“
„J…ja,“ stotterte der Angesprochene. „Ich bin…im wahrsten Sinne des Wortes… sprachlos!“
„Viele werden sprachlos im Angesicht dieser Macht!“ Die Augen des Priesters glühten kurz auf, als er das sagte.
„Jaja… Das stimmt. Ich bin überwältigt. Auch danke ich euch für eure Grosszügigkeit… Heiliger Vater…“ Er wusste nicht genau, wie man so einen Xandrax-Priester anzusprechen hatte. „Heiliger Vater!?“ Der Priester lachte dröhnend. „Ich bin… nicht heilig. Heiligkeit ist etwas für Schwächlinge. Nicht aber für uns Riesen. Nenn mich einfach… Meister.“
„Meister…“ wiederholte Zyklopus und bemühte sich, dabei möglichst naiv-dümmlich dreinzuschauen. „Natürlich! Ich werde euch gerne so nennen. Immerhin seid ihr es ja, der uns die Pfade des Grossen Gottes lehrt.“ „Genau! Ich bin sozusagen ein Meister meines Fachs. Also… Meister, genügt vollkommen.“
Zyklopus meinte sich verhört zu haben. Wie arrogant dieser Kerl doch war! Der konnte doch nicht sauber sein. Doch wieder machte er gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte so dümmlich wie zuvor: „Gut! Dann werde ich euch also Meister nennen. Danke… grosser Meister für den reichlichen Ausschank von Met!“ Er hob sein Glas und prostete dem Priester zu.
Dieser nickte wohlwollend und meinte: „Wusstest du eigentlich, das Met das Lieblingsgetränk und wichtigste Inspirationsquelle, unseres grossen Gottes ist?“
„Nein, das wusste ich bisher noch nicht!“
„Es ist aber so! Darum geben wir ihm durch das Einnehmen dieses sakralen Getränks, auch stets die Ehre. Xandrax war auch oft betrunken. Wenn er betrunken war, jedoch, wurde er immer besonders kreativ. Unsere alten Legenden erzählen, dass es einstmals jedoch zu wenig Met in den Hohen Götterhallen gegeben habe. Die anderen Götter hatten das absichtlich so eingerichtet, damit Xandrax gar nicht erst zur Höchstform auflaufen konnte. Denn sie waren tief in ihren verdorbenen Herzen, eifersüchtig auf ihn und seine grosse Macht. Sie forderten ihn dann schliesslich dazu heraus, wieder einmal irgendwelche neuen Geschöpfe zu kreieren.
Die Riesen waren damals schon lange erschaffen worden und Xandrax nannte sie stets die Krönung seiner Schöpfung. Damals, als er unser Volk erschuf, hatte es ja auch genug Met gegeben. Diesmal jedoch gab es zu wenig davon und als unser geliebter Gott eine neue Spezies von Wesen zu erschaffen versuchte, da misslang es ihm und… dadurch entstanden dann unglücklicherweise die Zwerge; kleine mickrige Kreaturen, die Xandrax nie so geplant hätte.
Die anderen Götter verspotteten ihn daraufhin aufs Schändlichste und unser Schöpfer wurde schrecklich zornig. Deshalb wollte er dieses missratene, kleine Volk, auch sogleich wieder ausrotten. Aber eine weibliche Göttin… wir kennen sie heute als Die Erdmutter, hatte Mitleid mit den Zwergen und wies diese, hinter Xandrax Rücken an, sich tief unter der Erde zu verstecken, wo unser Gott sie nicht mehr finden konnte. Dort unten vermehrten sie sich über Jahrtausende, wie widerliche Karnickel, bis sie schliesslich wieder zurück ans Tageslicht kamen.
Vor einiger Zeit, kam Xandrax auf einmal in einer Vision zu mir und gab mir den Auftrag das Riesenvolk zu besammeln und sein Werk zu vollenden. Unsere Aufgabe ist es also, die Zwerge endlich auszurotten, wie es von Anbeginn her geplant war. Darum sind wir jetzt hier zusammengekommen.“
Als Zyklopus diesen Geschichten lauschte, spürte er auf einmal ein schummriges Gefühl in seinem Kopf. Kam das jetzt von dem Blödsinn, der ihm dieser Priester erzählte oder doch vom Met? Er musterte blinzelnd den vollen Ton- Becher, den er in der Hand trug und liess diesen unvermittelt sinken. Da… bekam Met ja gleich eine… ganz andere Bedeutung!
„Ach du meine Güte!“ ging es ihm durch den Kopf. „Das ist aber nicht wirklich sein Ernst, oder?“ Doch dann ermahnte er sich selbst, sich nichts von seinen Gedanken anmerken zu lassen.
„Warum hörst du auf zu trinken?“ fragte ihn der selbsternannte Meister und musterte ihn auf einmal misstrauisch.
„Äh… ich…,“ erwiderte Zyklopus „ich… bin nur völlig erschlagen, von dieser…neuen Erkenntnis…!“ Schnell nahm er nochmals einen Schluck aus dem Becher. „Ich weiss… gar nicht, ob ich schon würdig bin, dieses sakrale Getränk zu mir zu nehmen. Immerhin bin ich erst seit heute… Teil von Xandrax Gemeinde.“
Die Gesichtszüge des Priesters entspannten sich wieder etwas, so wie es bei dieser Art von Gesicht, nun mal möglich war und meinte, während er Zyklopus auf die Schulter klopfte: „Nur keine Sorge mein Sohn. Du bist jetzt ein Teil dieser Gemeinschaft. Solange du unserem Schöpfer treu ergeben bist, darfst du auch seines Lieblingsgetränks teilhaftig werden.“
„Da… bin ich aber froh!“ Zyklopus atmete unmerklich auf und als der Priester sich endlich wieder zum Gehen wandte, entspannte sich sein Körper auch wieder einigermassen, so wie es in der momentanen Situation nun mal möglich war.