Pia fuhr auf einmal aus dem Schlaf hoch und stellte erschrocken fest, dass sie eingenickt war. Wie lange hatte sie wohl geschlafen?
„Es wird bald Morgen,“ sagte eine tiefe, jedoch eher weibliche Stimme über ihr. Die Frau hob den Kopf und sah in die blauen Augen des Wasser- Greifs, welche sie freundlich anschauten. Sie erhob sich schnell und sprach: „Ich muss wohl eingeschlafen sein. Tut mir leid.“
„Kein Problem. Alles hat stets seine Richtigkeit im ewigen Plan des Schöpfers.“
„Du siehst schon viel besser aus.“
„Es geht mir auch einiges besser. Auch dank euch. Ich werde mich jedoch noch eine Weile ausruhen müssen, bis ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte bin.“
„Natürlich,“ nimm dir alle Zeit die du brauchst.“
„Ihr müsst in Zukunft auch keine Wache mehr bei mir halten. Ich werde jetzt wieder allein zurecht kommen. Ruht euch erst einmal aus! Wir reden dann später.“ Pia die tatsächlich sehr müde von den letzten Tagen war, nickte dankbar und machte sich dann auf den Weg zu ihrem nahegelegenen Gäste-Quartier. Dort liess sie sich in ihre weich ausgepolsterte Schlafnische fallen und schlief sogleich tief ein.
Nachdem der Elementarfürst des Wassers dem Greifen erschienen war und ihn geheilt hatte, ging es mit der Gesundheit des blauschillernden Mischwesens nun rapide aufwärts und innert kürzester Zeit, hatte diese einen Grossteil seiner einstigen Kraft wieder zurückgewonnen. Benjamin und Pia hielten den Zeitpunkt nun für gekommen, den Wasser Greifen nach dem Schlüssel zu Obislavs Welt zu fragen.
So begab es sich, dass sie das mächtige Wesen, eines Tages, nach dem Mittagsmahl, das sie in Morcheluz‘ Haus eingenommen hatten, ein weiteres Mal aufsuchten. Der Greif sass in eleganter Pose und mit aufgerichtetem Haupt in seiner Höhle und blickte ihnen, mit seinen saphirblauen Adleraugen, entgegen. Seine Wunden waren mittlerweile fast gänzlich verheilt und sein Fell und sein Gefieder, das in allen Blauschattierungen leuchtete, glänzte wieder.
„Sei gegrüsst, mächtiger Greif!“ sprachen die Geschwister. „Du siehst sehr gut aus. Diese Tatsache erfüllt uns mit Freude.“
„Die Freude ist ganz meinerseits,“ gab der Greif zurück. „Daran habt ihr und eure Freunde die Erdgnomen, einen erheblichen Anteil. Das werde ich euch niemals vergessen. Meine ewige Dankbarkeit wird euch gewiss sein und das will bei uns Greifen etwas heissen.“
„Wir fühlen uns durch deine Worte sehr geehrt, ehrenwerter Freund,“ gaben Pia und Benjamin zurück.
Der Greif liess so etwas wie ein Lachen hören: „Ihr redet so geschwollen daher, das ist wirklich nicht nötigt. Wir alle sind Eins und darum sollten wir uns auf Augenhöhe begegnen. Jetzt, da ihr mir das Leben gerettet habt, sowieso. Ihr habt mich vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt, nämlich davor, bei lebendigem Leibe, von den boshaften Worlows aufgefressen zu werden.“
„Diese Worlows und all die anderen finsteren Kreaturen, die hier in letzter Zeit ihr Unwesen treiben, woher kommen sie? Früher gab es, soweit wir uns erinnern, noch keine solchen Bedrohungen im Erdreich.“
„Das stimmt. Die Worlows, so wie die anderen finsteren Kreaturen, wurden aus dem Odem des ultimativen Bösen erschaffen oder zumindest davon korrumpiert. Wie damals der verderbte Lavadrachen Valiocha. Die drei Ritter sind dafür verantwortlich.“
„Sie sind also tatsächlich hier?“ fragten die Geschwister und kalte Schauder rieselten dabei durch ihre Körper.
„So ist es.“
„Malek sagte schon, dass deine Wunden die Signatur der Ritter tragen.“
Der Greif seufzte tief und schloss kurz die Augen, als würden die ganzen schrecklichen Ereignisse der letzten Tage, noch einmal, in all ihren grausamen Details, vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Dann sprach er mit belegter Stimme: „Ja…sie sind hier und sie… haben mir das angetan. Gegen alle drei zusammen… konnte ich… nichts ausrichten. Es war… schrecklich! Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie schrecklich!“
Pia legte erschüttert ihre Hand auf die Pfote des Greifs, und sie hatte dabei das Gefühl, ein Zittern durchlaufe den Körper des sonst so mächtigen Mischwesens. „Es… tut uns sehr leid, dass du so furchtbare Dinge erlebt hast und hoffen, dass auch deine inneren Wunden bald wieder verheilen werden.“
Der Greif neigte das Haupt und rieb es kurz gegen Pias Wange. „Das ist sehr lieb von dir. Aber macht euch keine Sorgen. Ich werde mich zu gegebener Zeit in eine Art himmlische Therapie begeben. Vorher jedoch gibt es hier noch einiges zu tun. Das Erdreich muss unbedingt vor den drei Rittern beschützt werden, denn sie sind wieder einmal dabei, ihre verderblichen Ränke zu schmieden. Das Erdreich hat eine sehr wichtige Bedeutung für alle Welten und darum tun sie alles, um es zu zerstören. Ich bin eigentlich hergekommen, um den Erdgeistern zu helfen. Aber auch wegen euch.“
„Wo wir gerade beim Thema sind,“ wagte Benjamin einzuhaken „eigentlich sind wir auch hierher gereist, um dich aufzusuchen. Da wir ebenfalls deiner Hilfe bedürfen.“
„Ich weiss. Mein roter Bruder der Feuer- Greif, hat mich darüber informiert. Es geht um den Schlüssel zu Obislavs Welt. Das muss jedoch noch warten.“
„Was meinst du damit?“ Benjamin spürte Ärger in sich aufsteigen. „Jetzt sind wir extra hergekommen, um dich aufzusuchen und haben dir sogar das Leben gerettet und nun vertröstest du uns erneut? Was aber, wenn die Ritter in dieser Zeit den Zugang in Obislavs Welt finden?“
„Das wird nicht passieren, denn gerade sind die drei zu sehr damit beschäftigt, hier im Erdreich ihren boshaften Odem zu verbreiten. Daneben haben sie noch bei anderen, schlimmen Ereignissen ihre Hände im Spiel. Unter anderem sind sie auf der Erde sehr aktiv.“
Die Turner Geschwister erschraken. „Was meinst du damit?“
„Sie sind gerade intensiv bestrebt… einen dritten Weltkrieg anzuzetteln.“
„Einen dritten Weltkrieg! Oh Gott! Das ist ja schrecklich! Aber müssten wir dann nicht dort helfen?“
„Nein. Um die Erde kümmern sich gerade andere, lichtvolle Mächte. Euch obliegt es im Moment, das Gleichgewicht in den Elementarreichen zu erhalten. Das wird schlussendlich allen im Omniversum helfen. Wenn ihr eure Aufgabe hier erfüllt habt, dann werden wir uns über diesen Schlüssel unterhalten. Könnt ihr damit leben?“
Die Geschwister senkten etwas enttäuscht ihren Blick und der Greif sah, wie sie mit sich rangen.
Dann jedoch sprach Pia: „Also gut. Wir wollten Lumniuz und seinem Volk ja sowieso helfen. Du wirst schon wissen, was das Beste ist.“
„Ja, das weiss ich. Ihr könnt mir vertrauen.“
Benjamin tat sich etwas schwerer mit der Tatsache, dass der Greif sie erneut vertröstete und darum sprach er: „Nun gut. Wir tun, was du verlangst. Aber… kannst du uns dann wenigstens versichern, dass du den Schlüssel auch wirklich in deiner Obhut hast?“
Der Greif wiegte sein mächtiges Haupt hin und her, als würde er nachdenken, dann jedoch sprach er: „Ja, ich kann es euch versichern. Einer dieser Schlüssel ist tatsächlich in meiner Obhut. Das muss jedoch unbedingt unter uns bleiben. Im Augenblick ist er gut versteckt an einem sicheren Ort. Wo der zweite Schlüssel ist, weiss ich jedoch nicht. Ihr braucht allerdings nur einen. Diesen werde ich euch aushändigen, wenn ihr gewisse Prüfungen bestanden habt.“
Das Herz der Geschwister klopfte aufgeregt. Das blaue Mischwesen hatte den Schlüssel also tatsächlich! Das gab ihnen neuen Mut und so sprachen sie: „Also gut! Damit können wir leben. Vielen herzlichen Dank. Wie gehen wir nun also weiter vor?“
Der Greif senkte leicht sein Haupt, dass er auf Augenhöhe mit den Geschwistern war und sprach: „Wie ihr sicher bereits gehört habt, ist das Nordreich der Gnomen- Welt, in grossem Aufruhr. Wir müssen herausfinden, was da genau vor sich geht und warum bei den Nordoks so eine Welle des Hasses, gegen die anderen Gnomen- Viertel, entbrannt ist. Ziel sollte es sein, eine friedliche Einigung mit ihnen zu erzielen. Lumniuz obliegt jetzt die Aufgabe Mungoluz zu vertreten. Seine besondere Stunde ist nun gekommen. Mungoluz‘ Zeit als Anführer des Gnomen- Volkes ist vorbei.“
„Das hat der Älteste uns auch gesagt,“ gab Ben nachdenklich zurück. „Aber Lumniuz stützt sich immer noch sehr auf ihn ab. Er glaubt, dass ohne Mungoluz keine wirklichen Verhandlungen möglich sind.“
„Ich kann das gut verstehen. Immerhin war der Gnomen- Älteste stets eine Art Vaterfigur für ihn. Nun jedoch wird es Zeit, dass er in seine eigene Kraft findet. Bisher hat er sich selbst nie so wirklich als Anführer oder Grosser Wissender gesehen. Er war immer viel zu bescheiden. Doch in ihm schlummert ein grosses Potenzial. Ihr könnt ihm helfen, dieses Potenzial noch mehr auszuschöpfen.“
„Es wird ihm nicht sonderlich gefallen Mungoluz abzulösen. Er strebt in keinster Weise nach Macht oder Ansehen.“
„Und genau darum ist er der ideale Kandidat für die Aufgaben, die ihm noch bevorstehen.“
„Also gut,“ meinte Ben „dann werden wir jetzt erst einmal zu ihm und den anderen zurückkehren und das weitere Vorgehen genauer besprechen.“
„Ich komme mit euch,“ sprach der Greif.
„Fühlst du dich denn schon kräftig genug?“
„Ja, dank euch und meinem Elementarfürsten schon.“
„Die Gänge, die wir jedoch durchqueren müssen, sind teilweise sehr eng,“ gab Benjamin zu bedenken. „Ich weiss nicht, ob so ein riesiges Wesen wie du da durchpasst.“
„Das lasst nur meine Sorge sein!“ erwiderte das Mischwesen amüsiert. Es drehte sich nun mehrmals um die eigene Achse und während es sich drehte, wurde es immer kleiner und kleiner. Schliesslich hatte der Greif nur noch die Grösse eines stattlichen Wolfes. Die Geschwister beobachteten das Schauspiel mit offenen Mündern und grossen Augen. „Ich kann mich auch noch kleiner machen, wenn es sein muss,“ meinte der Wasser- Greif. „Im Notfall kann ich sogar zu Wasser werden.“
„Das ist unglaublich!“ rief Pia und klatschte begeistert in die Hände. „Du siehst jetzt so richtig niedlich aus.“
„Niedlich!“ rief das Mischwesen mit gespieltem Ärger in der Stimme. „Ich bin alles andere als niedlich!“
Die Frau lachte und meinte: „Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich finde das nur so cool. Jetzt sind wir wirklich auf Augenhöhe. Die anderen werden staunen.“
Schon bald trafen sie wieder in Morcheluz‘ Wohnhöhle ein. Die Einladung von Schnösiuz hatten sie bisher noch nicht wirklich wahrgenommen. Bisher hatten sie immer irgendwelche Ausreden gefunden, um ihn zu vertrösten. Doch irgendwann würden sie wohl in den sauren Apfel beissen müssen. Der Vorteil war, das Morcheluz Wohnhöhle einiges näher bei der Höhle des Greifs lag und so waren sie bei ihm untergekommen. Der dürre Gnom, war zwar auch ziemlich schnöselig, aber im Gegensatz zu seinem Vater, hielt sich das zum Glück noch in erträglichen Grenzen.
Alle freuten sich über die Rückkehr der Geschwister. Vor allem jedoch freuten sie sich, dass der Greif wieder genesen war. Auch wenn sie sehr staunten, wie sehr dieser geschrumpft war. Zumindest verbreitete er in diesem Format nicht solchen Angst und Schrecken, wie in seiner üblichen Grösse. Dennoch wurde er von einigen der Gnomen noch immer argwöhnisch beäugt und viele gingen ihm so gut sie konnten aus dem Weg. Das Mischwesen nahm das etwas enttäuscht zur Kenntnis und sprach: „Tja, leider haben viele noch immer grosse Angst vor einem Wesen wie mir. Dabei bin ich doch eigentlich ganz nett.“ „Das wissen wir,“ erwiderte Pia tröstend. „Irgendwann werden diese Angsthasen das auch noch erkennen. Immerhin bist du ja hier, um ihnen beizustehen.“
Die Geschwister berichteten Lumniuz nun alles, was sie mit dem Greifen besprochen hatten. Wie erwartet, war ihr Freund nicht sonderlich begeistert von dem Gedanken, sich als neuer Anführer des Gnomen Volkes hervorzutun. „Ich weiss nicht, ob meine Brüder und Schwestern wirklich auf mich hören werden,“ gab er zu bedenken.
„Dann musst du ihnen eben erklären, dass es Mungoloz‘ Wille ist, dass du ihn bei dieser Angelegenheit vertrittst,“ meinte der Greif gleichmütig.
„Vermutlich werden sie sich nicht damit zufrieden geben, wenn ich ihnen das sage. Erdgnomen sind da etwas eigen. Sie wollen das bestimmt aus Mungoluz‘ eigenem Munde hören.“
„Vielleicht, meinst du das ja auch nur. Bisher haben sie dich ja auch als ihren Anführer akzeptiert. Immerhin bist du ja der grosse Wissende, Lumniuz. Versuch doch einfach mal, es ihnen zu erklären.“
„Ich werde es versuchen, allerdings ohne Garantie. Was mir jedoch noch mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass sich die drei bösen Ritter hier in unserem Reich herumtreiben. Das ist höchst beunruhigend. Wie nur sollen wir gegen so einen mächtigen Gegner bestehen können, wenn nicht mal du eine Chance gegen sie hattest.“
„Ich war ja auch allein. Jetzt sind wir jedoch viele. Ausserdem…“ Der Greif deutete auf Pia, Benjamin und Malek „haben wir noch den ein oder anderen Trumpf in der Hand. Deine drei Freunde haben schon einige Erfahrungen mit den Ritter gesammelt und ihnen schon mehrere herbe Schläge verpasst.“
„Das mag sein. Trotzdem werden wir noch mehr Kämpfer brauchen. Besonders in diesen schwierigen Zeiten ist es deshalb wichtig, dass die Erdgnomen aller Viertel zusammenhalten.“
„Damit hast du absolut recht,“ stimmte der Wasser- Greif wohlwollend zu. „Darum wird es auch deine vorrangige Aufgabe sein, die Nordoks wieder zurück ins Boot zu holen. Traust du dir das zu?“
„Nun ja, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben,“ sprach Lumniuz ergeben. „Wirst du uns denn begleiten, wenn wir ins Nordviertel reisen?“ „Vorerst werde ich mich etwas im Hintergrund halten. Ich behalte euch jedoch im Auge und werde einschreiten, wenn der Moment gekommen ist.“
Lumniuz wirkte etwas skeptisch, dann jedoch meinte er: „Also gut! Dann werde ich jetzt erst einmal die nötigen Vorbereitungen für unsere Reise ins Nordviertel treffen. Alle mal herhören!“