Die abtrünnigen Elfen blickten Hungoloz mit grossen Augen an. „Du hast also die Stelle von Markuloz eingenommen?“ Der Angesprochene erwiderte bescheiden: „Niemand könnte jemals die Stelle meines geliebten, weisen Grossvaters einnehmen. Doch ich werde mein Bestes geben, um dem Waldvolk zu dienen und dafür zu sorgen, dass es seinen ursprünglichen Platz, in der ewigen Ordnung, wieder einnimmt. Dies ist von immenser Bedeutung für das ganze Omniversum. Wir gehören zum Reich der Natur, wir müssen unsere Aufgabe erfüllen, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Unsere Baumgeschwister werden uns dabei helfen.“ „Aber… die Bäume… sie sind alle tot!“
„Viele sind tot, aber viele sind auch einfach krank und man kann sie wieder heilen.“
„Aber wie bloss!?“
Hungoloz wandte sich an Pia und Benjamin. „Wärt ihr bereit, es an einem der Bäume zu demonstrieren?“
Die Geschwister nickten und blickten dann suchend umher. Hier gab es, zu ihrem Entsetzen, wirklich kaum mehr lebendige Bäume.
„Schaut dort drüben!“ rief Malek auf einmal. „Jene Esche hat noch einige grüne Zweige! Ihr solltet sie heilen können.“
Pia nickte in eifriger Zustimmung und holte eine der kleinen Ampullen, die das Heilmittel enthielten, aus ihrem Beutel. „Kommt mit!“ rief sie und alle Waldelfen folgten ihr neugierig. Pia goss den Inhalt der Ampulle auf den Boden, direkt über dem Wurzelwerk des Baumes und wartete gespannt ab.
Und tatsächlich! Kurz darauf, begann der kranke Baum neue Äste und Blätter auszutreiben! Wie bei der einstmals geheilten Buche, ging ein Rauschen und Raunen, durch die nun neu belebte Krone der Esche. Ein erlöster Seufzer drang aus dem Inneren des Baumes und eine dankbare, liebevolle Präsenz, breitete sich im toten Wald aus.
Vor allem die abtrünnigen Waldelfen, konnten kaum fassen, was sie da sahen und blickten ungläubig um sich. Als die mächtige Esche geheilt war, breitete sich der goldene Schein der Medizin weiter aus. In kleinen, verästelten Adern floss das goldene Licht, wie lebensspendendes Blut, zu den vorwiegend toten Nachbarsbäumen und kurz darauf, wurden dort hellgrüne Pflänzchen sichtbar, die rasend schnell zu jungen Bäumen heranwuchsen. Begeistert Rufe und Jubelschreie durchliefen die Reihen der Elfen: „Die Samen in der Erde, sie beginnen zu spriessen! Unser Wald heilt!“
Ein glückseliges Strahlen lag auf den Gesichtern aller Anwesenden. Und während die neuen Bäume wuchsen und die Kranken, im Umkreis der Esche, nach und nach, geheilt wurden, kehrten auch neue Erkenntnis und neue Lebenskraft, in die Herzen der irregeleiteten Naturgeister ein. Der schmächtige Elf und seine, in schwarze Rüstungen gekleideten Kumpane, fielen auf die Knie und senkten ihr Haupt, während sie zu Hungoloz emporblickten. „Ihr habt den Wald geheilt! Du bist der wahre König des Waldes! Von diesem Tage an, schwören wir dir unsere Treue!“ riefen sie.
Hungoloz schaute mit gemischten Gefühlen auf seine abtrünnigen Brüder herab. Wie nur sollte er sich ihnen gegenüber verhalten? Sollte er ihnen einfach so vergeben und Gnade walten lassen oder sie doch für ihre Frevel bestrafen?
Hilfesuchend blickte er zu den Geschwistern und Malek herüber. Doch diese nickten ihm nur leicht zu, so als wollten sie sagen: „Die Entscheidung liegt ganz bei dir!“ Hungoloz dachte angestrengt nach. Was hätte wohl Markuloz an seiner Stelle getan? Wieder schweifte sein Blick über die vor ihm knieenden Elfen. Ihre Augen schauten aufrichtig, aber auch etwas ängstlich zu ihm empor. Eine Weile ging Hungoloz unentschlossen auf und ab und einmal mehr zweifelte er an seinen Führungsqualitäten. „Mein Grossvater hätte bestimmt sogleich gewusst, was zu tun ist,“ dachte er, verärgert über sein Zaudern. Er schloss kurz die Augen und versuchte sich das Gesicht von Markuloz, ins Bewusstsein zu rufen.
Er erinnerte sich an ein paar sehr wichtige Worte, welche dieser ihm einst gesagt hatte:
„Jedes Geschöpf hat seinen ganz besonderen Platz in dieser Welt. Wir Waldelfen sorgen für den Wald und der Wald gibt uns alles, was wir zum leben brauchen. Alles fliesst ineinander, ist ein Wechselspiel der unterschiedlichsten Fähigkeiten. Wir sind niemals getrennt vom Wald und auch nicht von unseren Brüdern und Schwestern. Wir sind auch nicht getrennt von den anderen Geschöpfen, die neben uns das Omniversum bewohnen. Die Lichtströme des Lebens durchfliessen alles und jeden. Doch manchmal verlieren einige Geschöpfe die Verbindung, sie sehen sich als getrennt von anderen Lebewesen und verlieren ihr Mitgefühl für sie. Grosse Verzweiflung und Leid können die Folge sein. Als König des Waldes bist du kein Herrscher, kein höhergestelltes Wesen! Du bist viel mehr ein Diener, ein Diener der Einheit des Waldes und jener die ihn bewohnen. Lass niemals zu, dass Trennung und Spaltung unser Reich entzweit, denn wenn das passiert, wird es nur Verlierer geben.“
Hungoloz seufzte kurz auf und schliesslich sprach er mit ernster Stimme, an die abtrünnigen Elfen gewandt: „Es ist offensichtlich, dass ihr euch des Hochverrats schuldig gemacht habt. Aber nicht des Verrats an mir oder irgendeinem Regime. Sondern des Verrats an eurer eigenen Bestimmung, des Verrats an eurer eigenen Lebensgrundlage.“
Die Angesprochenen senkten schuldbewusst ihren Blick. Der König des Waldes fuhr fort: „Ihr habt zugelassen, dass Spaltung und Krieg das Waldreich erschüttert haben, habt einem finsteren Herrscher wie Darkuloz gedient, der die rätselhaften Seuchen überhaupt erst über die Bäume und alle humanoiden Rassen gebracht hat!“
Die letzten Worte sprach Hungoloz laut und betont aus und der Schauder, der dabei durch alle Anwesenden lief, war deutlich spürbar. In vielen Augen stand die Frage: „Darkuloz war als schuld an der Seuche?“
„Ja, Darkuloz hat das getan!“ bestätigte der König des Waldes ihre Gedanken. „Er wollte uns vernichten, wollte das Waldreich entzweien, und eine schreckliche Drangsal über uns bringen. Beinahe wäre es ihm gelungen…“ Hungoloz hielt einen Moment inne, um seine Worte richtig wirken zu lassen und Pia schaute ihn bewundernd an, als er schliesslich weitersprach: „Und ihr…“ warf er den Abtrünnigen vor „habt euch von ihm einwickeln lassen…, weil ihr Angst hattet?!“ die Worte klangen wie Peitschenhiebe, unter denen sich die dunkelgekleideten Elfen, erschüttert duckten.
„Ihr habt vergessen, dass wir alle Eins sind, Eins miteinander, Eins mit dem Wald und Eins mit allen lebenden Wesen! Und nur wegen dieses Vergessens, hat Darkuloz so viel Macht erhalten! Nur darum konnte die Seuche uns auf diese Weise heimsuchen! Euer Verhalten war deshalb verabscheuungswürdig und falsch! Doch…“
Hungoloz machte erneut eine bedeutungsschwangere Pause, „wenn ich euch nun auf so schreckliche Weise bestrafen würde, wäre ich nicht besser als dieser… finstere Fürst. Ich würde euch dann ebenfalls als getrennt von mir und meinen Getreuen ansehen und darum… werde ich Gnade walten lassen. Ihr müsst jedoch einen Schwur ablegen. Einen heiligen Schwur, den ihr im Angesicht der goldenen Tannen, den heiligsten Wächtern des Waldreiches, ablegen werdet! Solltet ihr ihn nicht halten, werden die Bäume selbst eure Richter sein. Ist das klar!“
Hungoloz Stimme schwoll erneut an. Die Elfen zu seinen Füssen nickten unterwürfig und Erleichterung machte sich auf ihren Gesichtern breit. „Bis ihr diesen Schwur abgelegt habt…“ fuhr der König des Waldes fort, „werdet ihr unsere Gefangenen sein!“ Wieder nickten die Abtrünnigen zerknirscht.
Hungoloz musterte jeden Einzelnen von ihnen mit einem durchdringenden Blick und sprach schliesslich: „Dann werden wir nun also in mein Dorf zurückkehren und in zwei Tagen zusammen zu den Goldenen Tannen gehen.“ Er rief einige seiner Männer zu sich und die Abtrünnigen wurden sogleich von ihnen abgeführt.