Die darauffolgenden Abende, besuchte der Wolf Manuel nicht mehr. Dieser litt sehr darunter, denn er vermisste seinen neuen Freund schmerzlich. Ziemlich lustlos und traurig, ging er seinem üblichen Tagewerk nach und beim Training war er auch nicht mehr so wirklich bei der Sache.
Eines Tages, fragte der Greifen- Mann: „Was ist nur los mit dir? Du bist so unkonzentriert in letzter Zeit.“
Manuel liess sich seufzend in den Schnee fallen und sprach: „Es tut mir leid Meister, aber… es geht mir gerade nicht sehr gut.“
„Hat das womöglich etwas mit deinem neuen Wolfsfreund zu tun?“
„Ja,“ erwiderte der Junge zuerst ziemlich erstaunt. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis, dass Greife ja eigentlich alles wussten.
So erwiderte er: „Es stimmt, ich bin tatsächlich ziemlich traurig, weil er mich schon so lange nicht mehr besucht hat. Er hat mir vor drei Tagen seine Gefährtin Simbala vorgestellt und die beiden wollten mich in ihr Rudel aufnehmen.“
„Wenn sie das wirklich wollten, dann hat das eine wichtige Bedeutung. Du scheinst ihnen sehr ans Herz gewachsen zu sein. Vor allem diesem Simao.“
„Ja, so ist das wohl. Ich sagte den beiden allerdings, dass ich nicht Teil ihres Rudels sein kann, weil ich eine andere Aufgabe habe. Simao hat mir das scheinbar sehr übel genommen.“
Der Greif nickte verständnisvoll.
„Ich kann den Wolf verstehen, aber er wird sich trotzdem irgendwann damit abfinden müssen, dass du als zukünftiger Fürst der neuen Welt, weitgehendere Verpflichtungen hat. “
„Und trotzdem schmerzt es mich sehr, dass Simao nun so enttäuscht von mir ist.“
„Er spürt eben eine ganz besondere Verbindung zu dir. Das verwirrt ihn, macht ihm vielleicht sogar etwas Angst. Für ihn ist es naheliegend, dass du seinem Rudel beitrittst, weil er dich nicht verlieren will. Doch das ist nicht der richtige Weg für dich. Es ist auch nicht der richtige Weg für euch.“
„Aber was ist dann der richtige Weg?“
„Das müsst ihr beiden selbst herausfinden. Nur soviel lass dir gesagt sein: Simao ist etwas ganz Besonderes. Seine Denkweisen, unterscheiden sich, in vielen Bereichen, von jenen seiner Artgenossen. Er steht vor einem wichtigen Evolutionsschritt, der etwas mit dir zu tun hat. Das spürt er und darum versucht er alles, um dich irgendwie zu halten. Ihr solltet noch einmal miteinander reden. Vielleicht klären sich dann einige Dinge.“
Manuel nickte. „Du hast wahrscheinlich recht. Doch wenn sich mein Wolfsfreund nicht mehr blicken lässt, kann ich auch nichts machen.“
„Du kannst ja nach ihm rufen. Wölfe haben sehr gute Ohren und ich bin sicher, dass er nicht weit entfernt ist.“
„Also gut. Ich werde es heute Abend versuchen.“
„Eine gute Entscheidung!“ Der Greifen- Mann streckte Manuel nun sein Hand entgegen und half diesem wieder auf die Beine. „Dann machen wir jetzt noch ein Bisschen weiter, okay?“
„Okay!“
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„Du wolltest diesen Menschling also tatsächlich in unser Rudel aufnehmen?“ Simaos ältester Sohn Samna blickte seinen Vater ungläubig an. Es handelte sich bei ihm um einen etwas dunkleren Wolf, jedoch mit heller Gesichtsmaske. „Wie konntest du überhaupt auf so eine Idee kommen?“
Simao erwiderte herrisch: „Das hast nicht du zu bestimmen! Deine Mutter und ich sind noch immer die Anführer dieses Rudels und du solltest unsere Entscheidungen nicht so dreist in Frage stellen!“
„Aber das muss ich!“ begehrte Samna auf. „Es geht schliesslich um die Zukunft unseres Rudels. Den Menschen kann man nicht vertrauen. Der Gedanke allein, dass so jemand, Teil unserer Gemeinschaft werden könnte, undenkbar!“
„Manuel ist aber anders,“ erwiderte der Alpha- Wolf. „Ausserdem wollte er sowieso nicht Teil des Rudels werden. Er meinte, dass er andere Aufgaben habe. Der Grosse Wolfsgeist weiss, was genau für Aufgaben das sind. Aber es soll darin um die Rettung der ganzen Welt gehen. Etwas Besonderes haftet diesem Jungen an. Deine Mutter hat es auch gespürt. Etwas das wir noch gar nicht richtig zu fassen vermögen. Aber… ich habe einfach das Gefühl, dass wir ihm zur Seite stehen müssen.“
„Ach Vater!“ seufzte der jüngere Wolf. „du hast dich da wohl in etwas verrannt. Wölfe und Menschen können nie wirklich zusammenleben.“
„Aber das stimmt nicht. Unsere Vorfahren haben sich einstmals ebenfalls domestizieren lassen und sind nun als Hunde die treuesten Begleiter der Menschen.“
„Hunde!“ Samna schnaubte verächtlich. „Mickrige Kreaturen, die ihr ganzes Erbe vergessen haben! Du selbst hast das sogar immer wieder gesagt. Das darf uns nicht passieren! Ich erkenne dich gar nicht wieder! Wo ist dein Stolz, wo ist deine Selbstachtung geblieben?!“
Simao knurrte seinen Sohn an und schnappte nach ihm. „Jetzt gehst du eindeutig zu weit! Willst du mich etwa ernsthaft herausfordern?“
Samna senkte seinen Blick, duckte sich und leckte sich über die Lefzen, um seinen Vater zu beschwichtigen.
„Nein… natürlich nicht,“ erwiderte er. „Tut mir leid.“
„Das will ich auch hoffen.“ Simaos Haltung entspannte sich wieder etwas und er meinte: „Ich kann deine Bedenken ja auch irgendwie verstehen. Doch in dieser Sache, solltest du mir einfach vertrauen. Ausserdem…, wie gesagt, Manuel will sowieso nicht Teil unseres Rudels werden. Also vergessen wir das Thema!“
Der jüngere Wolf nickte. „Ganz wie du wünscht… Vater.“
Simao stiess so etwas wie einen Seufzer aus und trottete dann nachdenklich davon.
Eine Weile trabte er einfach so dahin, versuchte all die seltsamen Gefühle zu ordnen, die ihn gerade bewegten. Etwas war mit ihm passiert, seit dieser Fürst der neuen Welt hierher gekommen war. Aber er konnte sich einfach nicht erklären, was genau. Er machte sich Gedanken, die sich sonst kein Wolf machte und das beunruhigte ihn selbst wohl noch mehr, als seinen Sohn…
Langsam begann es wieder zu dämmern und das orange Abendlicht der Sonne, kündigte die nächste sibirische Nacht an.
Schon so lange lebte Simao nun schon hier, schon so lange und er hatte bisher sein Dasein, sein Leben, niemals in Frage gestellt. Jetzt jedoch, war alles anders. Er hatte einfach das Gefühl, dass er an einem andern Ort gebraucht wurde. Doch… er fürchtete sich schrecklich vor so einem Schritt.
Ohne dass der Wolf es bemerkt hatte, hatte er wieder die Richtung zu Manuel Hütte eingeschlagen. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und Dunkelheit und Kälte, breitete sich um ihn herum aus. Mit einem leisen Winseln, legte er sich auf einer kleinen Anhöhe in den Schnee, seinen Blick auf das Holzhaus gerichtet, in welchem ein warmes Licht leuchtete. Er sehnte sich so sehr nach diesem Licht, dieser Wärme dort. Und doch war dieses Licht nur eine Metapher für eine noch viel grössere, lichtvollere Welt. Simao sehnte sich so sehr nach dieser grösseren, lichtvolleren Welt.
Er hob seinen Kopf gen Himmel und stiess ein trauriges, schmerzerfülltes Heulen aus. In diesem Heulen lag sein ganzer Schmerz, seine ganze Ungewissheit und seine Sehnsucht, nach all dem Wundervollen, das irgendwo, weit fort von hier, auf ihn wartete.
Und… sein Heulen schien tatsächlich erhört zu werden, denn Manuel öffnete die Tür und lief nach draussen.
„Simao!“ hörte der Wolf ihn rufen. „Simao bist du das? Bitte komm wieder zurück! Ich vermisse dich! Bitte… Simao!“
Das Tier konnte seine Freude kaum fassen. Manuel rief nach ihm. Er rief nur nach ihm! Der Wolf erhob sich und lief so schnell er konnte den Hügel hinab, wo sein menschlicher Freund ihn mit offenen Armen empfing...