Im Laufe des Tages bereiteten sich alle auf die bevorstehenden Herausforderungen vor. Als Pia und Benjamin sich daran machen wollten, noch mehr der Bäume zu heilen, konnten sie es kaum glauben. Alle Baumriesen, welche im näheren Umfeld der alten Buche standen, trieben jetzt ebenfalls neue Äste und Blätter aus! „Schaut euch das mal an!“ rief Benjamin voller Freude „Das Fläschchen Medizin, scheint auch den anderen Bäumen zu helfen! Die grosse Buche leitete einen Teil des Heilmittels an ihre Brüdern und Schwestern weiter! Ist das nicht wundervoll?“
Pia nickte voller Freude und auch die Waldelfen und Malek stiessen Rufe der Überraschung aus.
„Ich fühle mich irgendwie so vitalisiert, seit die Genesung unserer pflanzlichen Freunde begonnen hat!“ freute sich Hungoloz. „Es ist so ein Gefühl als könnte ich… Bäume ausreissen!“ Sogleich lachte er jedoch über das Wortspiel.
„Lieber keine Bäume ausreissen mein Junge,“ scherzte Malek. „Sonst ist es sogleich wieder vorbei mit der neuen Vitalität!“
Tartaloz und die anderen Elfen, wirkten ebenfalls neu gestärkt und machten sich voller Tatendrang an die Arbeit.
Neue Zuversicht erfüllten die Geschwister und als die Sonne in einem roten Leuchten über dem Wald untergegangen war, legten sie sich zufrieden schlafen. Diesmal waren sie, wie einst bei ihrem ersten Besuch im Waldreich, im Hause von Markuloz untergebracht, wo auch Hungoloz schlief. Malek kam stattdessen bei Tartaloz unter.
Trotz der Freude über die geheilten Bäume, fand jedoch keiner so richtig den Schlaf. Hungoloz, welcher im untersten Stockwerk des Hauses schlief, blieb noch lange wach und setzte die Botschaft für die anderen Elfenfürsten auf. Er musste diese auf kleine Zettel schreiben, damit man sie an der Kralle eines mittelgrossen Vogels befestigen konnte.
Pia und Benjamin, die im obersten Stock schliefen, wälzten sich noch lange hin und her. „Was meinst du?“ frage Pia an ihren Bruder gewandt, der auf den anderen Seite des Zimmers, in seinem Bett lag. „Wird Darkuloz wohl mit sich reden lassen?“
„Ich hoffe es sehr. Obwohl…, das was Malek über die finstere Macht sagte, die im Wald zurzeit ihr Unwesen treiben soll, lässt mich etwas daran zweifeln. Ich hoffe nur, wir tun das Richtige.“
„Wir tun auf jeden Fall unser Bestes,“ meinte Pia. „Wie wir es schon früher stets zu tun pflegten.“
„Aber damals war es anders. Die Naturgeister lebten, bei unserem ersten Besuch hier, noch alle im Einklang miteinander. Doch jetzt auf einmal bekämpfen sie sich. So etwas hätte ich niemals für möglich gehalten.“
Pia seufzte tief. „Ja, du hast recht! So etwas ist noch nie dagewesen und es bringt… einfach alles durcheinander. Wir sind so sehr darauf angewiesen, dass die Naturreiche harmonisch funktionieren. Wenn sie es nicht mehr tun… was wird dann aus uns? Was wird aus den Menschen, aus all den anderen Geschöpfen? Man sieht ja, wie eng alles miteinander verbunden ist. Alle Lebewesen sind Eins. Doch jetzt scheint alles so… falsch. Meinst du, wir können überhaupt etwas ausrichten?“
„Wir müssen es auf jedem Fall versuchen,“ sprach Benjamin eindringlich. „Wir dürfen nicht aufgeben. Nun wird es aber Zeit, dass wir schlafen! Eine herausfordernde Zeit steht uns bevor.“
Pia nickte und schwieg dann, denn sie wollte ihren Bruder nicht von seinem wohlverdienten Schlaf abhalten. Schliesslich schloss sie aus den regelmässigen, ruhigen Atemzügen Benjamins, dass er eingeschlafen war. Sie jedoch, starrte immer weiter an die, nun in Finsternis gehüllte Decke, des stattlichen Baumhauses und ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis.
Schliesslich, als Mitternacht bereits vorbei war, hatte sie genug. Sie schlug ihre Decke energisch zurück und machte sich auf zum grossen Balkon, welcher sich ein Stockwerk tiefer, ausserhalb des Wohnzimmers befand. Etwas frische Luft, würde ihr bestimmt guttun.
Sie lehnte sich an das massive, hölzerne Geländer und lauschte in die mondhelle Nacht hinaus. Unzählige Sterne funkelten am Himmel und der Wald lag still zu ihren Füssen. „Eigentlich viel zu still!“ dachte sie bei sich und einmal mehr wurde ihr die Tragweite der momentanen Ereignisse, mit aller Deutlichkeit, bewusst. Da draussen starben Bäume, still und ohne Klage. Doch mit ihrem Tod, nahm auch die Kraft und Zuversicht des Waldvolkes ab.
„Wir werden niemals alle Bäume und auch Elfen heilen können,“ dachte sie kummervoll bei sich „und wenn Darkuloz nicht mit sich reden lässt! Was dann? Steht uns ein richtiger Krieg bevor? Ein schrecklicher Gedanke! Was wird bei so einem Krieg zwischen den Naturwesen überhaupt aus unserer Heimatwelt? Was wird aus unseren Eltern?“ Auf einmal zog tiefe Trauer und unsäglicher Kummer ihr Herz zusammen und sie begann leise vor sich hin zu weinen.
„Eine so schöne Nacht und doch so fremd,“ erklang auf einmal eine Stimme hinter ihr. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um. Vor ihr stand Hungoloz! Seine Augen glänzten im matten Schein des Sternenhimmels. In seinen blonden Haaren verfing sich das Mondlicht und liessen sie beinahe silbern erscheinen. Schnell wischte sich Pia die Tränen ab.
Doch dem Waldelfen war ihre Trauer nicht entgangen. Seine Augen richteten sich auf sie und sie spürte seinen teilnahmsvollen Blick auf sich ruhen. „Du hast geweint?“ fragte er.
„Nein, nein es ist schon gut!“
„Aber ich habe es gesehen. Was ist denn los?“
Die Frau zögerte, doch dann sprach sie „Okay, ich habe geweint, du hast recht. Das alles…“ sie machte eine ausladende Handbewegung, Richtung Wald „es stimmt mich so traurig. Auch dass nun sogar unter den, sonst so friedvollen Elfen, Krieg ausgebrochen ist…, ist einfach nur schrecklich!“
Hungoloz nickte und Pia glaubte deutlich seine tiefen Kummer zu spüren, als er sprach: „Ja, es ist wirklich sehr, sehr traurig.“
Er legte seine Unterarme auf das Geländer des Balkons und starrte ebenfalls hinaus in den nächtlichen Wald. „Wer hätte gedacht, dass es jemals so weit kommen würde…,“ fuhr er dann fort. „Ich hasse diese Streitereien, innerhalb meines Volkes und manchmal frage ich mich, ob ich dem allem überhaupt gewachsen bin…“
„Aber du machst deine Sache doch sehr gut,“ meinte Pia und legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. „Markuloz wäre bestimmt stolz auf dich.“
„Ach… ich weiss nicht, mir fehlt es noch an Weisheit und Erfahrung. Wäre doch wenigstens mein Vater hier.“
„Wir werden ihn bestimmt wieder finden.“
„Ich hoffe es. Ich fühle mich manchmal so…hilflos, so… allein.“ „Du bist aber nicht allein, du hast uns und auch Malek.“
„Aber ihr werdet uns eines Tages wieder verlassen.“ Er seufzte tief und seine Augen, die in der Nacht wie dunkle Steine glitzerten, richteten sich auf sie. „Ich will noch gar nicht daran denken, wie es ohne euch… sein wird.“ Warum kam es Pia bloss vor, als ob er vor allem sie damit meinte?
Sie versuchte ihrer Stimme einen festen Ton zu verleihen, als sie sprach: „Daran musst du jetzt noch nicht denken! Wir lassen dich nicht im Stich.“ „Und doch… müsst ihr vermutlich eines Tages wieder weiterziehen.“
Die blonde Frau konnte dem nicht widersprechen und bedrückendes Schweigen, breitete sich zwischen ihnen aus. Pia betrachtete das markante und doch sehr attraktive Profil und die spitzen Ohren des Elfen. Und erneut wurde ihr bewusst, wie verschieden sie, bei all ihren Gemeinsamkeiten, doch waren. Hungoloz schien ihren Blick auf sich zu spüren und wandte sich ihr wieder zu. „Was denkst du?“
„Ach nichts!“ sprach Pia verlegen. „Ich dachte nur darüber nach, wie verschieden du und ich doch eigentlich sind.“
„Sind wir denn so verschieden?“
Die Frau lachte etwas bitter auf. „Nun ja, du bist ein Elf und Teil des Naturvolkes, ich bin ein einfacher Mensch.“
Hungoloz schaute sie nun eindringlich an. Pia spürte es mehr, als sie es sah. Auf einmal wurde sie nervös und senkte den Blick.
Hungoloz ergriff sanft ihren Arm: „So verschieden sind wir doch eigentlich gar nicht,“ sprach er „Wir gehören zwar anderen Rassen an, aber ist das denn so schlimm?“
„Es ist nun mal eine Tatsache, dass unsere Lebensweisen sich sehr voneinander unterscheiden. Ich komme ausserdem aus einer ganz anderen Welt. Darum werde ich eines Tages wieder von hier weggehen müssen, wie du vorhin ja selbst sagtest."
„Und doch… habe ich das Gefühl unsere Seelen sind auf ganz besondere Weise verbunden,“ meinte der Waldelf. „Spürst du das nicht auch?“
„Nun ja… irgendwie schon,“ gestand die Frau.
„Ist es nicht eigentlich das was zählt? Überwindet nicht die Liebe alle Schranken?“
Pia zuckte zusammen, als der Elf von Liebe sprach und auf einmal ergriff sie Panik. „Nein!“ rief sie, etwas energischer als beabsichtig. „Das alles hat doch keinen Sinn. Bitte hör auf damit! Es kann keine gemeinsame Zukunft für uns geben.“
Hungoloz wollte widersprechen, doch Pia schnitt ihm das Wort ab. „Ich will nichts mehr davon hören! Das ist doch alles Blödsinn! Vergessen wir das Ganze besser schnell wieder!“ Der Waldelf zuckte unter ihren harten Worten zusammen.
Einen Augenblick lang nagten Schuldgefühle an der Frau und der Kummer drohte sie zu übermannen. Doch dann gewann ihr Verstand wieder die Oberhand und sie meinte: „Ich sollte jetzt… besser gehen.“
„Aber…“ wollte sie der Elf zurückhalten. Doch Pia hatte sich schon abgewandt und lief in Windeseile davon. Sie musste fort von hier, fort von Hungoloz, fort von all den Gefühlen, die sie zu überrollten drohten, wie eine mächtige Woge.
Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Sie wollte diese Gefühle nicht zulassen, wollte alles vergessen, was der Waldelf ihr vorhin gesagt hatte. Sie konnte nicht mit ihm zusammensein. Dafür gab es so endlos viele Gründe. Wenn sie diesen Weg mit Hungoloz beschritt, brachte das schlussendlich nur Kummer und Schmerz mit sich. Sie konnte nicht hierbleiben und er konnte auch nicht in der Menschen Welt leben, weil er zum Naturvolk gehörte. Er hatte ganz andere Aufgaben als sie. „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende,“ redete sie sich ein, während sie leise wieder in ihr Bett schlüpfte. Doch ihre Gedanken drehten sich jetzt noch wilder im Kreis und sie sah immer wieder den jungen Waldelfen vor sich, erinnerte sich an den hingebungsvollen Blick, aus seinen tiefgründigen Augen, als er von Liebe gesprochen hatte. Sie spürte wieder seine Hand, die sie so sanft berührt hatte und ihr Herz klopfte dabei wie rasend.
An Schlaf war nicht mehr zu denken und so wartete sie, bis ins Innerste aufgewühlt, auf den Anbruch des nächsten Tages.