Noch am selben Tag, machten sich die Freunde, begleitet von einer Gruppe von fünf Gnomen- Soldaten, wieder auf den Weg. Diesmal jedoch Richtung Westen. Morcheluz führte den Zug an. Erneut durchquerten sie mehrere Höhlen und Gänge. Dabei begegneten ihnen immer wieder einzelne oder Gruppen von Erdgnomen, welche sie freundlich grüssten, ihnen jedoch auch ziemlich neugierig hinterherblickten.
Nach etwa zwei Stunden, mit mehreren kurzen Pausen, passierten sie dann die Grenze zum Westviertel. Die Umgebung begann sich nun massgeblich zu verändern. Die Wohnhöhlen der hier lebenden Gnome, waren viel reicher ausgestattet, als jene im Zentralviertel. Es gab viel mehr Möbel, verschiedene Wandbehänge, sogar teils Teppiche, Bilder und Kunstobjekte.
„Die Westeks leben wirklich ziemlich prunkvoll,“ bemerkte Benjamin mit einem spöttischen Unterton in der Stimme.
„Ja, das kann man wohl sagen,“ erwiderte Lumniuz. „Ich finde diesen Schnickschnack allerdings viel zu unpraktisch. Die Leute des Westviertels sind eben sehr durch ihren Anführer Schnösiuz geprägt. Dieser ist schon weit in der Welt herumgekommen und hat immer wieder neue Dinge hierher mitgebracht. Schlussendlich wollten ihm die anderen Westeks natürlich nacheifern und haben sich demzufolge ebenfalls eine Menge neuer Dinge angeschafft. Der Handel mit Einrichtungsgegenständen, aller Art, boomt hier ziemlich. Die anderen Viertel leben da eher bescheidener. Es gab jedoch noch nie Probleme mit den Westeks. Sie sind friedlich und lassen alle in Ruhe. Die Grenze zum Nordreich ist jedoch nicht weit von hier entfernt. Darum haben die Westeks auch am meisten unter den aufrührerischen Rebellengruppen aus dem Norden zu leiden.“
Morcheluz kam nun zu ihnen und meinte mit gesetzter Stimme: „Wir sind bald am Ziel unserer Reise angekommen. Mein Vater, Schnösiuz von Westheim, gewährt uns eine Audienz in seiner Residenz Nobilis Caverna.“
„Nobilis Caverna (noble Höhle)?“ prustete Pia „ein wahrhaft besonderer Name.“
„Mein Vater ist ja auch etwas Besonderes,“ erwiderte Morcheluz leicht säuerlich. „Ich hoffe, du machst dich nicht über ihn lustig.“
„Aber nein!“ wehrte Pia ab „wie könnte ich!“
Der Westek Gnom musterte sie etwas zweifelnd und Pia versuchte möglichst ernst dreinzuschauen. Es gelang ihr aber nicht so wirklich und auch Benjamin und Malek konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nun ja,“ meinte Lumniuz entschuldigend „so sind sie die… Westeks. Ein ganz besonderes Völkchen.“
„Also ich bin auf jeden Fall sehr gespannt auf die Nobilis Caverna,“ meinte Ben.
Tatsächlich war die Heimstatt von Schnösiuz von Westheim ziemlich beeindruckend. Seine Wohnhöhle war etwa zweimal so gross, wie jene von Mungoluz, obwohl Letzterer eigentlich der Oberste des Gnomen-Volkes war. Sie erstreckte sich über zwei, übereinanderliegenden Ebenen. Es gab elegante, mit braunem Samt bezogene Stühle, Tische, die mit edlen Schnitzereien verziert waren und grosse Regale mit allerlei Krimskrams darauf. Deko-Vasen und Büsten standen überall herum. Eine Büste zeigte Schnösiuz sogar höchstpersönlich. Alle Wände waren voll mit Bildern, deren vergoldete Rahmen das Licht einfingen, das durch mehrere Öffnungen in der domartig gewölbten Decke hereinfiel. Natürlich gab es auch einen riesigen Kronleuchter, bestückt mit Kerzen, der ebenfalls ein goldenes Licht verströmte. Auf der oberen Ebene, die über eine enge Wendeltreppe erreichbar war, befanden sich die Betten. Diese waren alle mit Bettüberwürfen bedeckt, die aus glänzendem, satinartigem Material gefertigt waren.
Alles roch etwas muffig, weil die Luftfeuchtigkeit hier unten ziemlich hoch war und den textilen Materialien doch ziemlich zusetzte.
„Sieht alles zwar sehr prunkvoll und nobel aus,“ flüsterte Pia Lumniuz zu „aber ich glaube es ist wirklich etwas unpraktisch. Das alles beginnt doch mit der Zeit zu schimmeln.“
„Ja natürlich, es geht bei den Westeks ja auch mehr um Status als um Nützlichkeit. Sie gelten als sehr unpragmatisch. Was eigentlich nicht zum Erd- Volk passt. Nun… irgendeinen Grund wird es schon geben, weshalb sie so sind, wie sie sind.“
Die beiden schwiegen, denn sie mussten ihre Aufmerksamkeit nun einem Gnomen, reiferen Alters zuwenden, der stolz auf einem mächtigen Ohrensessel thronte und sie etwas argwöhnisch musterte. Er trug sehr elegante Kleider und sein Haar war lang, silbergrau und sehr gepflegt. Der etwas längere Henriquatre Bart (https://gentlemans-attitude.de/pflege/henriquatre/) war sauber gestutzt und verlieh ihm etwas Königliches. Er besass zweifelsohne ein gewisses Charisma, jedenfalls so lange, bis er mit seiner schnöseligen Stimme zu sprechen begann: „Grüsse, ihr müden Reisenden. Meine Nobilis Caverna ist der ideale Ort, um neue Kräfte zu sammeln. Seid willkommen und labet euch an all den Gaben, die ich für euch bereithalte. Nirgendwo werdet ihr etwas Vergleichbares finden. Das versichere ich euch.“
Malek hüstelte etwas verlegen und meinte: „Wir danken euch grosser Schnösiuz… von Westheim, aber wir haben eigentlich nicht vor, länger zu bleiben. Die Zeiten sind schwierig und wir müssen schnell weiter.“
„Aber, aber! Warum denn so eilig Reisende? Eine Audienz bei mir wird nur wenigen gewährt und noch weniger dürfen meine unvergleichliche Gastfreundschaft geniessen.“
„Ach du meine Güte!“ dachten die Freunde. „Der gute Schnösiuz hat ja eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst. Wie kommen wir aus dieser Situation jetzt bloss wieder heraus?“
Benjamin startete nochmals einen Anlauf und sprach, mit möglichst ehrfürchtiger Stimme (darum bemüht nicht denselben schnöseligen Tonfall wie der Gnom anzuschlagen): „Davon sind wir überzeugt, oh Schnösiuz du Unvergleichlicher! Aber… wir müssen wirklich weiter. Eigentlich sind wir nur hergekommen, um zu erfahren, wo die blaue Feder gefunden wurde, die euer Sohn vor kurzem von einem Boten erhielt. Es handelt sich bei dieser Feder nämlich ziemlich sicher um die Feder eines Greifs.“
„Die Feder eines Greifs?“ Schnösiuz‘ Interesse schien geweckt.
„Ja, es sieht fast so aus. Wir müssen dieses besondere Wesen unbedingt finden, womöglich hängt die Rettung des Omniversums davon ab.“
„Die Rettung des Omniversums? Erzählt mir mehr!“
„Wir haben aber, wie gesagt, keine Zeit. Es scheint fast so, als würde der Greif unsere Hilfe brauchen. Habt ihr auch die schweren Beben gespürt, welche das gesamte Höhlensystem erschüttert haben?“
„Ja, das haben wir. Ihr denkt, diese Erdbeben hatten etwas mit diesem Greifen zu tun.“
„Es könnte gut sein, ja. Sagt uns bitte einfach, wo die Feder genau gefunden wurde.“
„Also gut,“ Schnösiuz klang nun ziemlich vernünftig. „Ich werde euch einige Männer mitschicken, die wissen, wo der Fundort der Feder war. Aber versprecht mir, dass ihr auf den Rückweg wenigstens noch einmal bei mir vorbeischaut und meine Gastfreundschaft nicht noch einmal ausschlagt.“
„Also gut,“ erwiderte Benjamin dezent genervt. „Wir versprechen es. Wir versprechen euch alles, was ihr wollt, wenn ihr uns nur helft, den Greifen zu finden.“
Schnösiuz nickte zufrieden und selbstgefällig. Wie schön es doch war so richtig wichtig zu sein!