Die einsame Hütte in der Taiga
Sie flogen und flogen. Manuel kam das Ganze endlos lange vor und es war noch immer Nacht.
„In dieser Gegend hier,“ erklärte ihm der Greif „sind die Tage um diese Jahreszeit herum sehr kurz, die Nächte dafür umso länger. Die Sonne geht, jetzt im November, erst kurz vor 10 Uhr morgens auf und bereits um kurz vor 16 Uhr, wieder unter. (https://meteoatlas.de/russland/turuchansk-56513/wetter-im-november). Du kannst dir also vorstellen, dass es nur wenige Tagesstunden gibt. Im Dezember sind die Tage sogar nur um die vier Stunden lang.“ (https://meteoatlas.de/russland/turuchansk-56513/wetter-im-dezember)
„Ach du meine Güte! Das sind ja tolle Aussichten!“ sprach Manuel erschrocken. „Darum ist es also noch immer nicht Tag geworden? Sind wir wenigstens schon bald am Ziel?“
„Den grössten Teil unserer Reise haben wir bereits geschafft. Aber es dauert schon noch etwas. Am besten du schläfst ein wenig.“
Gleich nachdem das Mischwesen das gesagt hatte, fühlte Manuel eine wohlige Müdigkeit in sich aufsteigen und kurz darauf, fielen ihm die Augen zu.
Als er wieder erwachte, war die Umgebung bereits etwas heller geworden und eine blasse Sonne ging über der endlos scheinenden Eislandschaft auf. Der Greif setzte gerade zum Sinkflug an. Unter ihnen erschien nun eine einsame Blockhütte, gebaut aus hellem Lärchen-Holz, daneben befand sich ein ebenfalls hölzerner Schuppen.
„Wir sind da!“ sprach der Greif und landete. „Diese Hütte wird in der kommenden Zeit dein zu Hause sein.“
Manuel fand diesen Gedanken nichts sonderlich reizvoll und stieg mit wackligen Knieen vom Rücken des Mischwesens.
Dieses erklärte nun: „Es wird hier oft sehr kalt und windig. Allerdings sinken die Temperaturen im November selten tiefer als auf -30 Grad. Durch den Wind kann es sich jedoch oft kälter anfühlen. Im Haus findest du dem Wetter angepasste Kleidung. Die anderen Dinge, hast du ja in deinem Beutel mitgebracht. Die Hütte muss noch mit Holz beheizt werden. Da hinten, unter dem Vordach der Scheune, hat es noch einen Vorrat an Holz, welches du auf jenem Scheitbock zerkleinern kannst.
Wie du siehst, gibt es dort drüben sogar ein kleines Waldstück, bestehend aus einigen sibirischen Lärchen. Viele der Bäume sind bereits abgestorben oder wurden von Wind und Wetter gefällt. Sie ergeben gutes Feuerholz. Es gibt sogar einen Bach hinter dem Waldstück. Im Haus findest du ausserdem Vorräte und was du sonst noch so brauchst. Ich wünsche dir alles Gute.“
„Du… verlässt mich also tatsächlich wieder?“ fragte der junge Mann und nun wurde ihm wirklich mulmig zu Mute. „Ja, aber keine Sorge, bald wird sich jemand bei dir melden. Achte bis dahin gut auf dich, denn hier in der Gegend gibt es auch einige wilde Tiere. Vorwiegend vor den ziemlich grossen, eurasischen Wölfen, solltest du dich in Acht nehmen
(https://de.wikipedia.org/wiki/Eurasischer_Wolf). Die Bären halten zum Glück gerade Winterschlaf. Es gibt aber auch Rentiere und Elche. Letztere können auch ziemlich gefährlich werden. Aber du schaffst das schon!“
„Also… ich weiss nicht so recht. Ich habe echt schiss,“ klagte Manuel.
„Das musst du nicht haben. Jemand wird stets über dich wachen, allerdings greifen diese Helfer wirklich nur im äussersten Notfall ein.“
„Nun ja…Ich weiss jetzt nicht, ob mich das wirklich beruhigen soll. Ich habe mich noch nie länger an so einem lebensfeindlichen Ort aufgehalten.“
„Ich weiss. Das ist Teil der Prüfung. Diese wilde Umgebung wird dich vieles lehren und dich in mancherlei Hinsicht stärker machen. So nun geh aber und richte dich ein! Die Tage hier sind, wie bereits erwähnt, ziemlich kurz und in der Nacht, sollte man sich nicht mehr draussen aufhalten. Ausserdem gibt es hier öfters Schneestürme. Darum muss man die ruhigen Zeiten stets gut nutzen. Sei also immer auf alles vorbereitet!“
Der junge Mann seufzte. Das Ganze war ziemlich beunruhigend. Doch es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen.
So machte er sich auf den Weg zur Hütte. Dabei verliess er, ohne es zu merken, das wärmende, magische Energiefeld des Greifen. Sogleich schlug ihm die Kälte wie eine eisige Woge entgegen.
„Oh mein Gott!“ rief der Junge atemlos. „Das ist wirklich verdammt kalt.“
„Ich habe es dir ja gesagt.“ Der Greif liess so etwas wie ein Lachen hören. „Ich würde mich beeilen, ins Haus zu kommen!“
Das liess sich Manuel nicht zweimal sagen und lief zum Eingang der Blockhütte. Als er sie gerade betreten wollte, rief der Greif jedoch nochmals nach ihm. „Übrigens, die nächste Siedlung liegt etwa acht Kilometer von hier entfernt, in nördlicher Richtung. Sie heisst Turuchansk und hat
etwas mehr als 4000 Einwohner (https://de.wikipedia.org/wiki/Turuchansk). Um dorthin zu gelangen, gibt es ein Paar Schneeschuhe und sogar Skier im Schuppen drüben. Reise aber nur bei Tage!“
Mit diesen letzten Worten erhob sich das rotleuchtende Mischwesen erneut in die Lüfte und flog davon.
Manuel aber, blieb allein und ziemlich verloren in der eisigen Kälte zurück. Schnell suchte er Zuflucht in dem Haus. Hier war es jedoch auch nicht viel wärmer als draussen. Zum Glück gab es aber einen Kamin, neben dem bereits genug Holz für das erste Feuer bereitlag. Auch Streichhölzer, Grillanzünder und einige alte Zeitungen fand Manuel.
Zwar dauerte es etwas, bis er das Feuer entzündet hatte, doch Manuel bat die Feuergeister bzw. die Salamander um Hilfe und gleich darauf, verbreiteten die prasselnden Holzscheite, im Kamin, eine wohlige Wärme. Erst jetzt wagte der Junge es, sich mal so richtig in seiner Unterkunft umzuschauen. Die Hütte war nur sehr spärlich eingerichtet, mit einem Tisch, zwei Stühlen, einem alten Polstersessel, einem einfachen Schrank und einem schmalen Bett, das mit weichen Fellen und einigen warmen Decken ausgepolstert war. Auch ein Waschbecken gab es, allerdings ohne fliessendes Wasser.
Nach dem Feuermachen suchte Manuel nach etwas Essbarem. Tatsächlich gab es einige Konserven und auch sonstige Vorräte, wie Dörrfleisch, getrockneter Fisch, Kolonialwaren etc. in der Hütte.
Direkt über dem Feuer, wärmte er sich eine der Konserven in einer alten verbeulten Pfanne auf und holte einige Schaufeln voller Schnee von draussen herein, um diesen zu schmelzen. So hatte er innert kürzester Zeit eine warme Mahlzeit und genug Wasser, von dem er noch einen Teil in Krüge und Schüsseln abfüllen konnte.
Tatsächlich stand sogar ein alter, benzinbetriebener Generator hinter dem Haus, der ein wenig Strom erzeugte, um die allernötigste Elektronik mit Energie zu versorgen. Bis Manuel herausfand, wie man diesen in Betrieb nehmen musste, brauchte es jedoch erneut einige Zeit.
Schliesslich aber lief der Generator knattern an und gerade noch rechtzeitig vor Anbruch der nächsten, langen Polarnacht, hatte der Junge jetzt etwas elektrisches Licht. Dank diesem Licht konnte er sogar in einem der Bücher lesen, von denen es hier ebenfalls ein paar gab. So würde ihm wenigstens nicht allzu schnell langweilig werden. Zufrieden hüllte er sich in eine der Decken, setzte sich ans Feuer und vertiefte sich in einen bunt illustrierten Bildband über die Tier- und Pflanzenwelt Sibiriens.