Treue eines Wolfs
Manuel war sehr froh, dass er und der Wolf Simao sich wieder versöhnt hatten. An dem Abend, als Simao zu ihm gelaufen war, hatte er Manuel das ganze Gesicht abgeleckt und sich in seine Arme gekuschelt. Etwas später, hatte er seinem Menschenfreund, dann etwas sehr Unerwartetes offenbart: „Mir ist in den letzten Tagen bewusst geworden, dass mein Platz an deiner Seite ist. Ich spüre tief in meinem Inneren, dass ich eine Aufgabe habe, eine Aufgabe, die ich hier nicht so zu erfüllen vermag, wie es eigentlich für mich vorgesehen wäre. Letzte Nacht ist mir ausserdem die Grosse Wolfsmutter im Traum erschienen und sie sagte mir, dass ich an die Seite des Fürsten der neuen Welt gehöre.“
Manuel schaute seinen Wolfsfreund ungläubig an und fragte: „Bist du da auch ganz sicher? Aber was wird dann aus deinem Rudel?“
„Ich werde meinen ältesten Sohn und seine Partnerin zu den neuen Anführern ernennen. Ich bin sicher, sie werden ihre Sache als Alpha- Paar gut machen und ich werde dir, zusammen mit Simbala, auf deinem kommenden Weg, folgen.“
„Simbala ist damit einverstanden?“
„Ja, auch sie hat schon von Anbeginn gespürt, dass du etwas ganz Besonderes bist. Sie hat sogar noch vor mir erkannt, dass unsere Schicksale untrennbar verbunden sind.“
Manuel legte seinen Arm um den Wolf und sprach bewegt: „Natürlich würde es mich sehr glücklich machen, wenn ihr mich begleitet. Dann werde ich nicht mehr so alleine mit allem sein.“
Simao legte den Kopf auf die Knie seines Freundes und sprach: „So ist es also beschlossen, ab heute werden Simbala und ich dir folgen, wo auch immer dich deine Wege hinführen mögen… Fürst… der neuen Welt!“
Seit jenem Moment hielt sich Simao fast nur noch an der Seite von Manuel auf. Auch Simbala schaute jetzt öfters vorbei.
Wenn ihr Menschenfreund trainierte, lagen die Wölfe immer irgendwo in der Nähe herum und wenn das Training fertig war, rollten sie sich zu Manuels Füssen zusammen. Für den jungen Mann war es ein schönes Gefühl, die edlen Tiere nun stets an seiner Seite zu haben. So liess sich die Einsamkeit, ausserhalb der Trainingseinheiten, um einiges leichter ertragen.
Der Feuer- Greif meinte eines Tages, als sie gerade mit Pfeil und Bogen trainierten: „Die beiden Wölfe scheinen dir treu ergeben zu sein. Es will etwas heissen, wenn solch wilde Geschöpfe, sich zu so einem Schritt entschliessen.“
„Ja,“ gab Manuel zurück „auch wenn ich dabei teilweise fast ein schlechtes Gewissen habe, weil sie wegen ihrer Treue zu mir, ihr Rudel im Stich lassen.“
„Mach dir nicht zu viele Sorgen! Das hat schon seine Richtigkeit so. Die beiden Wölfe, besonders Simao, sind einzigartige Tiere. Sie sind höher entwickelt, als die meisten ihrer Artgenossen. Das Göttliche hat etwas ganz Besonderes mit ihnen vor.“
„Was denn?“
„Das kann ich dir noch nicht sagen.“
„Aber sie bringen sich in grosse Gefahr, wenn sie mich begleiten, zumal ich schon bald gegen sehr gefährliche Gegner antreten muss. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihnen deswegen etwas zustossen würde.“
„Das ist ihre eigene Entscheidung. Ein Wolfsherz ist treu und wenn es sich entschliesst jemandem zu folgen, dann durch alle Tiefen und Untiefen des Lebens.“
„Aber können sie denn überhaupt das ganze Ausmass dessen begreifen, was uns noch bevorsteht?“
„Das müssen sie gar nicht, denn, wie gesagt, folgen sie jemandem, dann folgen sie ihm, egal wohin und unter welchen Umständen.“
Manuel war es noch immer nicht ganz wohl bei der Sache, doch diesmal schwieg er.
Stattdessen legte er mit dem Pfeilbogen an und sein Pfeil, verpasste den schwarzen Mittelpunkt der Zielscheibe, nur um wenige Millimeter.
„Du wirst immer besser,“ meinte der Greifen- Mann anerkennend. „Schon bald können wir unser Training vorerst pausieren.“
„Meinst du wirklich? Ich habe das Gefühl, ich sei noch lange nicht gut genug.“
„Du musst dein Training natürlich auch etwas weiterführen. Vor deinem grossen Kampf, werden wir aber auf jeden Fall nochmals alles zusammen durchgehen.
Als Nächstes wird dich nun jedoch meine Schwester, der Wasser- Greif besuchen. Ihr obliegt es, sich um deine Psyche und die Aufarbeitung deiner, noch vorhandenen Blockaden zu kümmern.“
Manuel fragte ein wenig skeptisch: „Brauche ich das denn überhaupt? Sollte ich nicht vielmehr in den magischen Künsten unterwiesen werden?“
„Das alles gehört dazu. Solange du dich selbst nicht in einem ganz klaren Licht siehst und du durch irgendeine Blockade in dir angreifbar für das Böse bleibst, kannst du auch nicht gegen selbiges bestehen. Ausserdem erwächst die stärkste Magie, aus einem weisen und erwachten Geist. Bei diesem Prozess ist meine Blaue Schwester die ideale Begleiterin.“
„Also gut, wenn du meinst,“ erwiderte Manuel ergeben. „Wann wird es damit denn losgehen?“
„Wir haben jetzt Freitag. Ich denke, wir werden heute und am Wochenende noch etwas weiter die unterschiedlichen Kampftechniken üben, dann werde ich mich vorerst verabschieden.
Meine Schwester wird sich dann bald bei dir melden, Sie ist eine sehr interessante Gesprächspartnerin und ausserdem sehr liebevoll und geduldig.“
„Das klingt ja schon mal gut,“ erwiderte Manuel grinsend. „Heisst also, ich hab mal etwas Pause?“
„Wie auch immer man Pause verstehen mag. In körperlicher Hinsicht wird es sicher etwas weniger anstrengend, mental jedoch… ich weiss es nicht. Nun lass uns aber weitermachen! Der nächste Pfeil muss mitten ins Ziel treffen!“