„Solaria!“ rief Pia entsetzt und hob die kleine Sonnenkugel auf, die plötzlich zu Boden gestürzt war und nur noch ganz, ganz blass leuchtete. „Was ist nur mit dir passiert?“
„Die Atmosphäre hier… sie scheint ihr doch mehr zuzusetzen als wir dachten,“ meinte Benjamin zutiefst besorgt.
Die Frau betrachtete die Kugel und Tränen brannten in ihren Augen. „Es tut mir so leid… kleine Freundin, wenn wir das gewusst hätten, hätten wir dich niemals so einer Gefahr ausgesetzt.“
Sie schob die Sonnenkugel nun in die Innentasche ihrer Jacke, so dass diese ganz nahe an ihrem Herzen lag und hoffte darauf, dass die Macht der Gewänder der Klarheit, welche sie trug, auch die kleine Fee etwas beschützte und stärkte.
Tatsächlich schien sich Solaria dadurch etwas zu erholen und ihr Licht und ihre Wärme wurden wieder etwas kräftiger. „Erhol dich jetzt erst einmal richtig,“ sprach Pia liebevoll zu ihr. „Wir werden den Weg auch so finden. Ben, haben wir nicht irgendwo noch eine Fackel in unserem Gepäck?“
„Ja, eine noch. Ich hoffe sie reicht zumindest, bis wir den Obelisken finden.“
Die Geschwister entzündeten die Fackel und hoben sie über ihre Köpfe. Ihr Schein jedoch vermochte kaum durch den dichten Nebel zu dringen, der sich nun wieder zusammengezogen hatte.
Wenigstens sahen sie nun jedoch den Weg unter ihren Füssen.
Langsam, ganz langsam, bewegten sie sich vorwärts. Man wusste ja schliesslich nie, was in dieser finsteren Umgebung alles auf einem lauerte.
Je näher sie dem düsteren Gebirge kamen, umso schwerer wurde es ihnen ums Herz und jeder Schritt fiel ihnen unendlich schwer.
„Der Obelisk kann nicht mehr weit sein,“ flüsterte Benjamin. „Obislav muss wirklich sehr böse sein, denn diese Welt hier ist bestimmt nicht immer so düster gewesen. Er muss das alles durch seinen grossen Hass deformiert haben.“
„Du hast recht, dieser Hass ist hier überall gegenwärtig,“ stimmte ihm seine Schwester zu. „Ich kann sie fast körperlich spüren. Auch mein Gemüt ist so betrübt und… ich fürchte mich wirklich. Ich fürchte mich vor dieser grenzenlosen Bosheit. Sie hat sehr viel Ähnlichkeit mit der Bosheit des Herrn der Finsternis oder jener der drei Ritter. Ich hoffe nur, letztere sind uns nicht schon zuvorgekommen und haben Obislav beauftragt, für sie irgendwelche Sphärentore zu öffnen. Das wäre eine unglaubliche Katastrophe!“
„Darüber sollten wir erst gar nicht nachdenken,“ erwiderte Benjamin und man spürte, dass er sich mit diesen Worten auch selbst beruhigen wollte. Denn auch in ihm tobte ein schrecklicher Kampf. Die destruktive Energie welche hier herrschte, zerrten nämlich auch an seinen Nerven und alles erschien ihm an diesem Ort viel schlimmer, als es sonst der Fall gewesen wäre.
„Benjamin!“ vernahm er auf einmal eine Stimme, die aus dem Nebel zu ihm herüberdrang. Der Mann erstarrte zu Stein. Die Stimme gehörte zu seiner Liebsten Sara!
„Sara!?“ rief er in die undurchdringliche Finsternis hinein. „Bist du das?“
„Sara?“ fragte Pia „warum rufst du nach Sara?“
„Ich habe… gerade ihre Stimme gehört.“
„Du hast ihre Stimme gehört? Aber das kann nicht sein!“
Doch die Stimme von Sara, erklang erneut: „Benjamin! Benjamin! Bitte hilf mir! Es ist… so dunkel hier. Ich habe Angst!“
„Da war es wieder!“ sprach Pias Bruder. „Hast du es nicht auch gehört?“ „Nein, ich habe gar nicht gehört. Das ist bestimmt nur ein böser Spuk! Du darfst dich dadurch nicht von deinem Wege abbringen lassen, hörst du?“
Der blonde Mann nickte, doch seine Augen flackerten unsicher. Wenn es nun doch Sara war, die nach ihm rief? Schliesslich war sie damals auch ganz unerwartet im Trollenreich aufgetaucht. Aber hier war das etwas anderes. Vom Verstand her, war es sonnenklar, doch ein Rest von Unsicherheit und Beklemmung blieb, während sie ihren Weg fortsetzten.
Auf einmal jedoch, hörte Ben einen gellenden Schrei. Auch diesmal war es Saras Stimme. Es klang jedoch wie ein Todesschrei, so als würde seine Liebste von etwas angegriffen und sogleich davon in Stücke gerissen werden. Das war nun doch zuviel für Ben. Er verliess den Pfad, auf dem sie sich befanden und lief in die Richtung, aus der die schrecklichen Todesschreie kamen.
„Benjamin!“ rief Pia ihm hinterher. „Warte! Das ist bestimmt eine Falle. Wir müssen stark bleiben. Hörst du? Wir müssen stark bleiben!“ Besorgt hob sie die Fackel in die Höhe und versuchte, einmal mehr, die Nebel mit deren Schein zu durchdringen. Jedoch erfolglos. Immer wieder rief sie nach ihrem Bruder, doch sie konnte ihn nirgends entdecken.
In diesem Moment, wurde es strahlend hell um sie und sie fand sich, auf einer von Sonnenschein durchfluteten Waldlichtung, wieder. Düfte von Blumen und Harz lagen in der Luft und dann… erblickte Pia ihren Liebsten Hungoloz, der ihr von der anderen Seite der Lichtung her entgegenkam! Ein Strahlen lag auf seinem ebenmässigen Gesicht und er breitete einladend seine Arme aus.
„Hungoloz?“ rief die Frau ungläubig und kämpfte gegen den Impuls an, dem Waldelfen sogleich entgegenzulaufen und sich in dessen Arme zu werfen. Ihr Verstand schaltete sich kurz ein. „Nein, das kann nicht sein! Hungoloz ist nicht hier! Wie sollte er auch hergekommen sein? Das ist eine Falle… ganz bestimmt…“
Ihre Sinne waren jedoch seltsam getrübt. Der Anblick der wunderschönen Lichtung, all die Düfte und die Gegenwart ihres Geliebten, machten sie irgendwie trunken. Und… ihre Beine wollten sich gerade verselbständigen, als sie, durch einen heftigen Stoss in ihre Seite, aus dieser wundervollen Illusion, zurück, in die schreckliche Finsternis von Obislavs Welt geworfen wurde!
„Pia!!“ neben ihr stand Benjamin. „Pass auf!“ In diesem Moment stiess eine riesige Fledermaus, mit spitzen Fangzähnen, auf die Geschwister hernieder.
Doch Benjamin hob bereits sein Schwert und spiesste das Tier damit auf. Unter qualvollem Gekreische fiel die Fledermaus zu Boden und blieb dort reglos liegen.
Doch damit war es noch nicht vorbei. „Es kommen noch mehr!“ schrie der Mann. „Vorsicht!“ Zwei weitere Fledermäuse, griffen die beiden an, ihre messerscharfen Klauen ausgestreckt.
Pia packte den weissen Diamantdolch und setzte sich nun ebenfalls zur Wehr. Gemeinsam konnten sie die schrecklichen Kreaturen vertreiben.
„Was um alles in der Welt ist geschehen?“ fragte dir Frau an ihren Bruder gewandt.
„Ich habe gehört, wie du nach Hungoloz gerufen hast. Das hat mich wieder in die Realität zurückgeholt und ich begriff, dass du dich in grosser Gefahr befindest. So habe ich die Schreie von Sara ignoriert, weil ich plötzlich begriff, dass dies alles nur eine Illusion ist. Zum Glück habe ich dich rechtzeitig gefunden, sonst hätten dich diese Viecher auf jeden Fall zerfetzt.“
Pia umarmte ihren Bruder erleichtert. „Vielen Dank! Du warst meine Rettung. Ich dachte wirklich, ich sehe Hungoloz. Da war diese wundervolle Lichtung und er… kam mir entgegen.“
„Das scheint es ja jemand oder etwas wirklich darauf angelegt zu hat, uns von unserem Wege abzubringen. Jemand, der unsere tiefsten Ängste und Schwächen kennt.“
„Ja, dieses Gefühl habe ich auch. Wir dürfen es auf keinen Fall mehr so weit kommen lassen. Sara und Hungoloz können unmöglich hier sein. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten.“
„Das stimmt. Wir müssen unsere Ängste unter Kontrolle halten, indem wir uns ganz klar auf das Licht und die Liebe ausrichten. Solange diese uns erfüllen, hat das Böse keine Macht über uns. Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden und auch diesmal werden wir triumphieren. Denn wir sind nicht allein.“
Diese Worte legten sich wie Balsam auf Pias Seele und sie erwiderte: „Du hast recht. Wir müssen aufhören uns immer wieder unsere eigenen, inneren Gefängnisse zu schaffen. Denn das Göttliche hat uns alle schon lange befreit.“
„Du hast recht. Wir dürfen das niemals wieder vergessen und sollten wir es doch einmal vergessen, dann müssen wir einander stets wieder daran erinnern.“
Getragen von diesen Gedanken, setzten Pia und Benjamin ihren Weg schliesslich mit neuer Zuversicht fort.