Fürst der neuen Welt
Manuel genoss indes seine Zeit im Kristallreich in vollen Zügen. Er fühlte sich an diesem Ort sehr geborgen und erinnerte sich jeden Tag mehr, und mehr, an sein einstiges Leben als Ululala zurück. Bevor er hierhergekommen war, hatte er sich oft sehr verloren und einsam gefühlt. Er vermisste seine Eltern, die durch die schrecklichen Überschwemmungen, an der englischen Küste, ums Leben gekommen waren, noch immer sehr. Zwar hatten ihm Pia und Benjamin neuen Halt gegeben. Doch nichts konnte seine Eltern schlussendlich wahrhaft ersetzen. Nach dem Urprungsfindungs- Ritual war diese Lücke, zum grossen Teil, wieder gefüllt worden, denn nun kannte Manuel einen wichtigen Teil seines einstigen Daseins. Dies war auch sein Haupt- Grund gewesen, hier zu bleiben und die Turner Geschwister nicht weiter zu begleiten. Mit Lumniuz harmonierte er ebenfalls gut und bisher sah er deshalb keinen Grund, hier jemals wieder wegzugehen. Doch er musste bald feststellen, dass der grosse, göttliche Geist, wohl andere Pläne mit ihm hatte.
Eines Nachts, als er, wie so oft, im Raum der Stille meditierte, da öffnete sich vor ihm auf einmal ein leuchtendes Portal! Erstaunt blickte er darauf. Was um alles in der Welt, war das?
„Komm!“ hörte er gleich darauf eine mächtige Stimme, die nach ihm rief.
Er erhob sich und trat zögernd näher an das Portal heran, aus dem ein strahlendes Licht strömte. Dieses Licht hatte so etwas Liebevolles, Tröstendes und zugleich Machtvolles an sich.
„Komm!“ hörte er die Stimme erneut. „Es gibt keinen Grund zur Furcht!“
So trat Manuel mit wild klopfendem Herzen durch das Portal. Anfangs sah er überhaupt nichts, weil der Schein um ihn herum so hell war, dass es ihn richtiggehend blendete. Mit der Zeit jedoch, verblasste der Schein etwas und der junge Mann konnte nun erkennen, dass er in einem riesigen, domartigen Gebäude mit hohen Säulen stand. Auf einem schneeweissen Podest gebettet auf ein samtenes, blaues Tuch, lagen einige Gegenstände. Sie sahen sehr prunkvoll aus. Es handelte sich dabei um ein mächtiges Schwert, einen dazupassenden Schild und eine diademartige Krone. All diese Gegenstände waren mit denselben Steinen verziert. Da gab es dunkelblaue Saphire, die wie ein nächtlicher See glänzten, daneben königsblaue Lapislazuli, versehen mit glitzernden Goldsprenkeln. Zudem waren da noch mehrere, in tiefem Grün leuchte Smaragde, Diamanten in wässrigen Grüntönen, goldschwarze Tigeraugen- Kristalle und Gold Topase. Den feurigen Abschluss bildeten schliesslich einige schillernde Feueropale und blutrote Rubine.
All diese Steine waren kunstvoll in die Oberfläche der edlen Ausrüstung eingearbeitet und mit prächtigen Goldschmiedearbeiten ergänzt. Manuel blickte ungläubig darauf und berührte die Krone vorsichtig mit seinen Fingern. Sogleich durchfuhr ihn eine unglaubliche Macht und Kraft, wie er sie noch niemals zuvor gespürt hatte. In diesem Augenblick tauchten wie aus dem Nichts, vier gewaltige Geschöpfe auf! Ihre Vorderkörper waren die von Adlern ihre Hinterkörper, die von Löwen. Ihre Gefieder und Felle leuchteten in den unterschiedlichsten Farbschattierungen.
Eine Erinnerung stieg in Manuel hoch. In seinem früheren Leben als Ululala hatte er auch schon mit solchen Wesen zu tun gehabt. Dennoch war er wie erschlagen von ihrer gewaltigen Präsenz.
„Seid ihr…Greife?“ fragte er.
„So ist es,“ erwiderte eines der vier Wesen, dessen Federn und Fell in unterschiedlichen Blautönen leuchteten. „Es wird Zeit für dich, Fürst der neuen Welt!“
„Fürst!?“ fragte Manuel. „Was soll das heissen? Ich bin kein Fürst.“
„Doch das bist du,“ mischte sich nun ein Greif mit rotem Gefieder ins Gespräch. „Du bist jetzt lange genug untätig gewesen. Es wird Zeit, dass du dich endlich deiner wahren Aufgabe zuwendest.“
„Aber meine Aufgabe ist es doch hier zu sein und mich um das Kristallreich zu kümmern. Ich bin dabei keineswegs untätig.“
„Das mag sein,“ sprach ein weiterer Greif mit einem Gefieder und Fell aus unterschiedlichen Grün und Silberschattierungen. „Aber deine Aufgabe ist noch viel weitreichender. Du kannst dich hier nicht einfach verkriechen und den Rest der Welt sich selbst überlassen, denn du bist ein Menschenkind. Du bist nicht mehr Ululala, auch wenn Ululala ein Teil von dir ist, ein Teil, der dir auch bei deiner heutigen Aufgabe, zweifellos grosse Dienste erweisen wird.“ „Aber… ich fühle mich hier im Kristallreich endlich wieder richtig zu Hause. Ich will… gar nicht mehr von hier weg.“
„Und genau das geht nicht,“ sprach der vierte Greif, dessen Farbe goldbraun war. „Es gibt für dich noch so viel mehr zu tun. Dies hier ist nicht der Ort, an dem dein Schicksal sich entscheiden wird. Es ist auf der Erde.“
„Auf der Erde?“ Manuel blickte die Greife ungläubig an. „Aber… warum bin ich dann hierher geführt worden?“
„Damit du deinen Ursprung erkennst.“
„Aber wozu dann bloss, wenn ich doch wieder auf diese triste Erde zurückmuss, wo nichts, aber auch gar nichts mehr, auf mich wartet.“
„Wir verstehen den tiefen Schmerz, den der Verlust deiner Eltern in dir ausgelöst hat,“ erwiderten die Greife. „Aber glaube uns, wenn wir dir sagen, dass es noch viel mehr gibt das auf dich wartet. Du nimmst eine wichtige Rolle in der heutigen und auch morgigen Zeit ein. Für diese wichtige Rolle haben wir dir auch diese Ausrüstung hier anfertigen lassen. In ihr liegt die geballte Kraft aller vier Elemente. Kombiniert mit deiner eigenen Zauberkraft und deinen sonstigen Fähigkeiten, wird sie dir bei den grossen Kämpfen helfen, die du in der kommenden Zeit noch ausfechten wirst.“
„Aber… ich habe mein magisches Potenzial noch gar nicht wirklich erschlossen und ich bin auch des Schwertkampfes nicht kundig. Ausserdem… gegen wen, soll ich damit denn überhaupt kämpfen? Gegen die bösen Ritter oder… gegen den Herrn der Finsternis? Das übernehmen doch schon Benjamin und Pia.“
„Und genau diese Haltung ist es, die du unbedingt ablegen solltest!“ donnerte der rote Greif, nun sichtlich verärgert. Manuel zuckte etwas erschrocken zurück. „Unser Bruder hat recht,“ meinte der blaue Greif, jedoch mit etwas sanfterer, ehe weiblichen Stimme. „Die Aufgaben der Grossen Führer, unterscheiden sich von deinen. Du bist es, der die Welten, nach den Umwälzungen, neu ordnen wird. Darum nennen wir dich auch „Fürst der neuen Welt“.
„Waas? Ich… soll die Welten neu ordnen?! Aber… das kann ich nicht!“ rief der junge Mann erschrocken aus. „Ich habe keinerlei Voraussetzungen dafür. Benjamin und Pia sind doch viel besser für diese Aufgaben geeignet.“
„Sie kümmern sich jedoch um andere Dinge. Sie dämmen den Schaden so gut als möglich ein. Auf dich hingegen, wartet eine noch grössere Herausforderung. Denn du bist auf ganz besondere Weise auserwählt. Darum wird dir eine spezielle Ausbildung zuteilwerden.
Du hast noch fünf Tage, um deine Angelegenheiten hier zu regeln, dann geht es los! Die Ausrüstung hier, werden wir bis dahin für dich verwahren“
„Aber…“ wollte Manuel noch einmal protestieren, doch das waren die Greife bereits wieder verschwunden und auch der lichtdurchflutete Raum löste sich in Nichts aus. Zutiefst verwirrt und mit klopfendem Herzen, fand Manuel sich allein im Raum der Stille wieder.