„Was um alles in der Welt war das!“ Einige der anderen Gnome kamen hereingelaufen. Unter ihnen befand sich auch Morcheluz, der zurzeit im Zentralviertel zu Gast war. In ihren Augen lag Angst und Unsicherheit. Mungoluz erwiderte: „Ich weiss es auch nicht. Es klang, als würden irgendwo in den Weiten des Höhlenlabyrinths, gewaltige Mächte aufeinanderprallen. Das war kein normales Erdbeben.“
„Ja, da bin ich ganz eurer Meinung, ehrenwerter Ältester,“ meinte Morcheluz mit seiner üblichen steif- formellen Art. „Habt ihr das Kreischen und das Brüllen gehört?“
„Ja natürlich,“ meinte Lumniuz. Dann wandte er sich mit fragendem Blick an die Geschwister Turner. „Meint ihr das könnte womöglich der Greif gewesen sein, den ihr sucht?“
„Ein Greif, hier im Erdreich?“ fragte Mungoluz etwas zweifelnd.
„So ist es,“ antwortete diesmal Pia. „Wir haben vor kurzem erfahren, dass sich der Wasser- Greif im Erdreich aufhält.“
„Dann seid ihr also deswegen hergekommen?“
„Unter anderem, ja. Aber natürlich auch um euch bei euren Schwierigkeiten mit den Nordoks zu helfen.“
„Da fällt mir etwas ein!“ rief Morcheluz „Gerade gestern kam ein Bote des Westviertels zu mir und hat mir eine eigenartige Feder gebracht. Zuerst dachte ich, es sei eine besonders lange Schwanzfeder von einem prächtigen Vogel, aber da ihr nun davon sprecht… es könnte ebenso gut eine Greifs- Feder gewesen sein. Sie ist auf jeden Fall strahlend blau und sehr gross. Wartet! Ich hole sie!“ Er eilte mit steifen Schritten davon. Pia und Benjamin kam es dabei vor, als würden sie einem dürren Zinnsoldaten hinterherschauen. Sie waren sehr aufgeregt. Wenn diese Feder nun tatsächlich dem Wasser- Greif gehörte, dann war das eine wichtige Spur und sie würden das Mischwesen vielleicht schneller finden als gedacht. Allerdings machten sie sich auch etwas Sorgen, wegen der wilden Kampfgeräusche, die sie vernommen hatten. Welch ein Kampf konnte solche Erschütterungen hervorrufen? Was für eine andere, mächtige Kreatur, würde es wohl wagen, sich mit einem Greifen anzulegen? Fragen über Fragen, denen sie unbedingt nachgehen mussten.
Morcheluz kam nun mit einem langen, schmalen Holzkästchen zurück, das mit wunderschönen Einlegearbeiten aus Perlmutt verziert war. Er überreichte dieses dem Gnomen- Ältesten. Dieser öffnete das Kästchen, das mit Samt ausgekleidet war und entnahm ihm eine wahrhaft eindrückliche, lange Feder in strahlendem Blau. Alle scharten sich um ihn und blickten tief beeindruckt darauf. „Eine wirklich aussergewöhnliche Feder!“ bemerkte Mungoluz. „Ich wüsste ehrlich gesagt keinen Vogel, der solch lange Federn besitzt, welche auch noch so ein strahlendes Blau aufweisen. Schon gar nicht hier im Erdreich.“
„Darf ich mal?“ fragte Malek und nahm die Feder nun selbst in die Hand. Er strich prüfend darüber. Dabei schloss er seine Augen.
„Tatsächlich!“ rief er. „Das ist eine Greifen- Feder. Sie hat eine ganz besondere Beschaffenheit und Weichheit. Ausserdem haftet ihr ein Hauch von Magie an. Eine Magie, die mir mittlerweile sehr vertraut ist, weil ich bereits zwei Greife kennenlernen durfte. Fühlt doch mal!“ forderte er die Geschwister auf. „Vielleicht spürt ihr es ja auch!“
Und tatsächlich! Besonders Pia spürte die besondere Energie, welche diese Feder umgab. Benjamin seinerseits konnte sich gut an die Beschaffenheit von Greifen- Federn erinnern und stimmte Malek ebenfalls zu.
Dann sprach er: „Wir müssen uns sogleich auf die Suche nach dem Mischwesen machen, vielleicht steckt es ja in Schwierigkeiten.“
„Auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, das eins dieser mächtigen Wesen jemals ernsthaft in Schwierigkeiten geraten könnte, stimme ich Benjamin zu,“ meinte Malek. „Je wärmer die Spur noch ist, umso besser.“
Er wandte sich an Morcheluz: „Könntest du uns vielleicht zeigen, wo genau die Feder gefunden wurde?“
Der Angesprochene erwiderte: „Ich kann es versuchen. Dazu müssten wir jedoch in mein Heimatviertel im Westen zurückkehren.“
„Das spielt keine Rolle,“ mischte sich Pia ins Gespräch. „Es ist überaus wichtig, dass wir den Greifen finden. Er muss uns bei einer wichtigen Angelegenheit helfen.“
„Darf ich wissen in welcher Angelegenheit?“ fragte Mungoluz neugierig. Die Geschwister und Malek blickten etwas unsicher in die Runde. Es waren einfach noch zu viele Augen auf sie gerichtet. Der Älteste verstand und meinte zu den anderen Gnomen, die hergekommen waren: „Ihr dürft jetzt wieder gehen. Die Grossen Führer und ich müssen noch einige Dinge besprechen.“ Die Angesprochenen nickten und zogen sich dann diskret wieder zurück. Morcheluz wartete noch etwas länger. „Du kannst auch gehen,“ meinte Mungoluz. „Wir werden dich wieder rufen, wenn wir deine Dienste benötigen. Vielen Dank auf jeden Fall, dass du uns diese Feder gebracht hast. Sie hat eine wichtige Bedeutung.“ Der Westek nickte etwas enttäuscht, das man ihn nicht einweihen wollte, gehorchte dann jedoch, ganz wie es die Etikette der Westeks verlangte.
Als die Geschwister, Malek und Lumniuz wieder mit dem Ältesten allein waren, berichteten sie diesem von ihren Plänen und der Bedrohung durch die drei bösen Reiter. Sie erzählten ihm auch von Obislav, den sie unbedingt unschädlich machen mussten. Der Älteste hörte ihnen tief beunruhigt zu. „Das sind allerdings ziemlich üble Neuigkeiten. Ich verstehe darum gut, dass die Suche nach dem Greifen für euch Priorität hat. Im Angesicht der Gefahren, die uns von diesen Rittern drohen könnten, kommen mir unsere Probleme im Erdreich beinahe wieder unbedeutend vor.“
„Sie sind auf keinen Fall unbedeutend,“ widersprach ihm Malek. „Da die Erdgnomen Naturgeister sind, hängt sehr vieles von ihnen ab. Nur wenn alle Naturgeister gut zusammenarbeiten und in Frieden leben, kann das Gleichgewicht in den Welten erhalten bleiben.“
„Vielleicht haben ja sogar die Ritter etwas mit diesen Entwicklungen in eurem Reich zu tun,“ fügte Ben hinzu. „Dem gilt es auf den Grund zu gehen. Darum werden wir uns wohl bald wieder von dir verabschieden müssen.“
„Das ist natürlich sehr schade, wenn auch verständlich,“ meinte Mungoluz. „Ich werde euch noch etwas Reiseproviant einpacken lassen und stelle euch ausserdem eine Eskorte von gut ausgebildeten Gnomen- Soldaten zur Seite.“ Ja, und dieses Angebot nahmen die Freunde nur zu gerne an.
Der Wasser- Greif
Der Greif lag reglos da. Er blutete aus unzähligen Wunden. Und da waren auch noch diese Worlows, grosse wolfsähnliche Kreaturen, die auf zwei Beinen gingen, welche an ihn herumzerrten und ihm immer noch weitere Wunden zufügten. Er spürte deutlich ihre spitzen Zähne und Klauen. Anfangs hatte er noch einigermassen die Kraft aufgebracht, sich gegen sie zu wehren, doch nun wurde er immer schwächer und schwächer. Mittlerweile konnte er sich kaum mehr rühren. Wie bloss hatte er in so eine aussichtslose Situation hineingeraten können? Eigentlich war er ja hergekommen, um auf die Grossen Führer zu warten, welche nach dem Schlüssel für Obislavs Welt suchten. Er hatte ausserdem vernommen, dass es auch sonst Schwierigkeiten im Erdreich gab. Woher diese Schwierigkeiten kamen, schien auf der Hand zu liegen, nachdem er in seinem Unterschlupf, ganz unerwartet, von den drei apokalyptischen Reitern angegriffen worden war. Ihren vereinten, magischen Kräften hatte er kaum etwas entgegensetzen können. Sie hatten ihn in die Knie gezwungen, ihm all seine Lebenskraft geraubt. Er konnte sich nicht einmal mehr selbst heilen, was sonst eigentlich kein Problem gewesen wäre. Einem Ritter allein, hätte er problemlos standhalten können, aber nicht allen zusammen. Dies war für ein so mächtiges und auch stolzes Wesen, wie den Greifen, ein schweres Los. Auch diese vermaledeiten Worlows, er hätte sie problemlos vernichten können, wenn er noch einigermassen bei Kräften gewesen wäre. Doch nun war er ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er konnte nur hoffen, dass ihn bald irgendjemand fand und rettete. Oh, er fühlte sich so schwach, so unendlich schwach…Vielleicht war sein Schicksal ja tatsächlich besiegelt?