Einige Zeit später, kam Manuel endlich wieder in seiner Holzhütte an! Atemlos lief er zur Tür, riss diese auf und verriegelte sie sogleich wieder hinter sich. Dann liess er sich erschöpft zu Boden gleiten.
Es dauerte lange, bis sich sein rasender Puls endlich wieder etwas beruhigte und erst mit der Zeit wurde ihm bewusst, wie knapp er eigentlich dem Tode entronnen war. Er dachte über das Geschehene nach und es erschien ihm rückblickend wie ein Wunder, dass er nicht von den hungrigen Wölfen zerfleischt worden war.
Er konnte also auch mit den Tieren sprechen? So etwas hätte er bisher niemals für möglich gehalten. Ob womöglich die magischen Kräfte, seines vergangenen Lebens als Ululala, langsam zurückkehrten? Oder hatte er diese Gabe schon immer besessen und entdeckte sie jetzt erst so richtig? Waren die höheren Wesen ihm so lange nicht zur Hilfe geeilt, weil er sich, durch eine Notsituation, auf diese Gaben besinnen musste?
So gerne hätte er doch mit irgendjemandem über seine Gefühle und seine Erlebnisse gesprochen. Der Junge wurde auf einmal sehr traurig. Er fühlte sich gerade so richtig einsam. Eigentlich war ihm früher das Alleinsein nie schwer gefallen. Er hatte es oftmals sogar gesucht. Doch hier in dieser sibirischen Einöde, war alles anders.
Auch sein Besuch in der kleinen Stadt Turuchansk hatte ihn nicht wirklich mit anderen Leuten in Kontakt gebracht. Die Gegend hier war zu fremd und die Menschen… so ganz anders. Dazu kamen noch die unzähligen Gefahren durch die teilweise sehr herausfordernden Witterungsverhältnisse, die Kälte und…, wie sich gerade gezeigt hatte, durch wilde Tiere.
Die Tage waren ausserdem viel zu kurz und grösstenteils sehr lichtarm. Die Kälte setzte Manuel ebenfalls zu, seine Hände und seine Lippen waren mittlerweile ganz rau und teilweise aufgesprungen.
Seufzend entzündete er ein Feuer im Kamin und verstaute seine Einkäufe in dem kleinen Vorratsschrank.
Dass er das ganze Fleisch an die Wölfe verloren hatte, ärgerte ihn jetzt, denn noch wusste er nicht, wann er wieder in die Stadt kam. Auch das er den Raubtieren versprochen hatte, dass es noch mehr zu Fressen in seiner Hütte geben würde, bereute er mittlerweile, denn so viel Fleisch war gar nicht mehr vorhanden. So hoffte er einfach, dass die Wölfe sein Versprechen nicht allzu ernst genommen hatten.
Wenigstens besass er jetzt aber etwas Gemüse, aus dem er nun ein vegetarisches Chili con Carne zauberte.
Als es damit fertig war, war es in der Hütte, durch das flackernde Feuer, wieder angenehm warm geworden. Er schöpfte einen Teil des Chilis in eine Schale, setzte sich dann, in einige Decken gewickelt, in den Polstersessel und begann zu essen.
Nach dem leckeren Mahl ging es ihm schon wesentlich besser, denn die vitaminreiche Kost, tat seinem geschwächten Körper gut.
Mit einem wohligen Seufzer liess er sich zurücksinken und kurz darauf, fielen ihm die Augen zu.
Ein besonderer Lehrmeister
Am nächsten Morgen wurde Manuel durch ein Poltern an der Tür, aus dem Schlaf gerissen. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch völlig angekleidet auf dem Sessel sass. Er sprang etwas erschrocken auf und ging zum Fenster. Vor der Tür stand ein hochgewachsener, gutaussehender Mann mit rotem, langem Haar und einem gepflegten, kurzgeschnittenen Bart. Er trug einen roten Winterwams, dazu passenden Hosen, einen Kapuzenmantel und besass eine kühn geschwungene, aristokratische Nase. Seine rotgoldenen Augen waren stechend und erinnerten den Jungen an die Augen eines Raubvogels. Er kannte diesen Mann nicht und darum rief er: „Wer ist da?“
„Ein Freund,“ war die schlichte Antwort.
„Woher weiss ich, dass du die Wahrheit sagst?“
„Weil ich es war, der dich hierher gebracht hat.“
Manuel war ziemlich verwirrt, packte zur Sicherheit den Schürhaken, der neben dem Kamin hing und öffnete dann die Tür.
„Wer… bist du?“ fragte er noch einmal.
„Erkennst du mich denn wirklich nicht?“ erwiderte der Mann mit einem Schmunzeln auf seinen vollen Lippen und schlüpfte einfach an Manuel vorbei in die warme Hütte. „Den Schürhaken kannst du getrost wieder weglegen. Ich tu dir bestimmt nichts. Ich bin hergekommen, damit wir endlich mit deiner Ausbildung beginnen können.“
Manuel musterte den Mann nochmals eingehend. Und dann auf einmal glaubte er zu erkennen, um wen es sich bei diesem handelte. „Bist du etwa… einer der Greife, womöglich der Feuer- Greif?“
„Klug kombiniert!“ lachte der Mann. „Ich dachte mir, ich nehme mal eine etwas menschenähnlichere Gestalt an, damit wir gemeinsam so richtig trainieren können.“
Tiefe Erleichterung und grosse Freude machte sich in Manuel breit. Endlich war er nicht mehr allein! Endlich geschah etwas Spannendes in dieser menschenfeindlichen Einöde der sibirischen Taiga!
„Du hattest keine leichte Zeit hier, habe ich recht?“ fragte der Greifen- Mann ihn nun und setzte sich auf einen der Stühle, die am Tisch standen.
„Nein, tatsächlich nicht. Ich hatte grosse Mühe mit der Isolation. Dabei ist mir das Alleinsein sonst nie schwer gefallen. Hier aber… ist es anders. Ausserdem ist dies ein ziemlich lebensfeindliches Fleckchen Erde. All diese Schneestürme, die Kälte und dann auch noch die Wölfe etc.“
„Wölfe?“ fragte der rothaarige Mann.
„Richtig! Ich hatte gestern ein ziemlich unangenehmes Zusammentreffen mit diesen Tieren. Doch das weisst du bestimmt schon alles.“
„Das könnte womöglich sein,“ erwiderte der Greifen Mann und lächelte versonnen.
„Dann bringt es auch nichts, wenn ich dir alles nochmals erzähle,“ gab der 20- jährige etwas verärgert zur Antwort.
„Aber nicht doch! Es ist wichtig, dass du mir über deiner Erlebnisse berichtest. Es tut dir auf jeden Fall gut und ich möchte die Geschichte gerne nochmals aus deinem Munde hören.“
Diese Aussage klang in Manuels Ohren etwas seltsam. Trotzdem musste er zugeben, dass er wirklich darauf brannte, jemandem diese unglaublichen Erlebnisse zu erzählen. So berichtete er von den Wölfen und all den anderen Dingen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus und er spürte, wie sehr es ihm gefehlt hatte, sich mit einem anderen Lebewesen auf solche Weise auszutauschen.
Als er geendet hatte, sagte der Greifen Mann jedoch nichts weiter zu den geschilderten Ereignissen, stattdessen stellte er dem Jungen eine Frage: „Was also hast du in den letzten Tagen über dich selbst gelernt?“
„Z.B., dass ich mit Tieren sprechen kann. Das habe ich bisher nicht gewusst. Vermutlich trug die Stresssituation, in der ich mich wegen der Wölfe befand, dazu bei, dass dies Gabe in mir erweckt wurde. Ausserdem lernte ich in den vergangenen Tagen auch sonst einiges dazu und musste mich zahllosen Herausforderungen stellen.“
„Das stimmt. Ich hatte immer ein Auge auf dich und ich muss sagen, du hast dich tapfer geschlagen.“
„Wenn du wirklich stets ein Auge auf mich hattest, hättest du auch etwas früher auftauchen können,“ meinte Manuel vorwurfsvoll.“
„Denkst du, dass du die Gabe der Tierkommunikation dann auch in dir entdeckt hättest?“ fragte der rothaarige Mann prüfend.
Manuel überlegte und er musste zugeben, dass dies vermutlich nicht der Fall gewesen wäre.
Der Greifen Mann aber, wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sondern sprach: „Siehst du! Ich musste dich eine Weile dir selbst überlassen, sonst hättest du dich nur ständig auf mich abgestützt und deine grossen Potenziale niemals entdeckt. Wenn man sich unter extremen Bedingungen behaupten muss, werden die Sinne geschärft und man sieht sich selbst in einem viel klareren Licht. Also nimm mir mein langes Schweigen nicht übel!“ Er erhob sich nun und meinte: „Nun lass und aber mit unserem Training loslegen, der Tag ist kurz und es wird Zeit für etwas körperliche und geistige Ertüchtigung!“