Wölfe
Am sechsten Tag dann, war das Wetter tatsächlich wieder einiges besser und Manuel beschloss, seinen Plan nach Turuchansk zu reisen, endlich in die Tat umzusetzen.
Er packte alles zusammen, zog sich die Schneeschuhe über, schulterte Rucksack und Skier und machte sich dann auf den Weg. Es war heute wirklich sehr schönes, erstaunlich mildes Wetter. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen, blauen Himmel herab und liess die Kristalle des frischen Neuschnees, wie tausend Edelsteine funkeln. Tief atmete der junge Mann die kühle Luft in seine Lungen und genoss die zauberhafte Schönheit dieses Winterwunderlandes. Mit Hilfe des Komapasses und der Karte, erreichte er dann auch schon bald den Fluss Jenissei. Dieser war breit und zog sich wie eine riesige Lebensader durch das schlafende Land. Er war gesäumt von schneebedeckten Bäumen und dort, wo das Wasser flacher war, hatte sich eine dicke Eisschicht gebildet.
Manuel folgte dem Fluss nun in nördlicher Richtung und nach einiger Zeit, sah er tatsächlich die ersten Häuser von Turuchansk auftauchen. Als er nach all den Tagen der Einsamkeit endlich wieder Menschen sah, freute er sich richtig. Die Zivilisation hatte ihn wieder! Allerdings hatte diese russische Stadt kaum etwas mit den Städten, die Manuel kannte, gemein und schon gar nicht mit den wunderschönen Städten im Märchenreich. Die meisten Häuser waren sehr alt, es war ziemlich schmutzig und auch die Leute hier, wirkten hart und eher unnahbar. Einige von ihnen musterten den Neuankömmling argwöhnisch. Kein Wunder, sie lebten ja auch an einem Ort, der nicht gerade ein Touristenmagnet war und bestimmt kamen deshalb nicht viele Fremde hierher, schon gar nicht im Winter.
Es gab in Turuchansk ein Bisschen Industrie, doch die Industriegebäude waren heruntergekommen und teilweise beschädigt. Neben den alten Holzhäusern, ragten vereinzelte Wohnblöcke- sogenannte Plattenbauten, in die Höhe. Auch sie wirkten wenig einladend und nur die eindrückliche Natur, welche die Stadt umgab, tröstete ein wenig über die hier herrschende Trostlosigkeit hinweg. Nun, lange würde Manuel sowieso nicht hierbleiben können, denn er musste darauf bedacht sein, dass er es auch wieder zurückschaffte. Denn hier zu übernachten… nein, das reizte ihn nicht wirklich. So hielt er nach einem Supermarkt Ausschau. Dieser war schnell gefunden. Es gab auch noch einen Werkzeugladen und eine Kneipe nicht weit davon entfernt. In der Kneipe ass und trank er etwas und genoss es einfach, mal wieder unter Menschen zu sein. Später kaufte er noch einige wichtige Dinge ein, darunter auch ein paar Lebensmittel wie Dörr-Fleisch, Kartoffeln, Schokolade, Müsliriegel, Gemüse und Früchte etc. Das alles packte er in seinen Rucksack. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm schliesslich, dass es Zeit wurde aufzubrechen, wenn er vor Einbruch der Nacht wieder in seiner Hütte sein wollte. Die Sonne stand bereits ziemlich tief am Horizont und ihr nun sanftes, goldenes Licht, wurde von einigen Wolkenschwaden getrübt.
Anfangs kam Manuel gut vorwärts und hatte auch keine Mühe den Weg zu finden. Doch dann auf einmal, stieg dichter Bodennebel auf! Innert kürzester Zeit sah der junge Mann nur noch wenige Meter weit und das machte ihm das Orientieren sehr schwer. Es suchte nach seinen eigenen Fussspuren und fand sie zum Glück schon bald. Als nun jedoch ein Wind aufkam und den Neuschnee dadurch aufwirbelte, lösten sich diese Spuren ebenfalls auf. Nun glich der Heimweg urplötzlich einem russisch Roulette und Panik ergriff Manuel.
Der Wind wurde währenddessen immer heftiger und schliesslich suchte der Junge Schutz in einem Waldstück. Im Windschatten der Wurzel eines umgestürzten Baumes, fand er einen trockenen, vom Wetter abgewandten Flecken. Er zog seine Jacke eng um sich und versuchte dann mit klammen Fingern ein Feuer zu entfachen. Zum Glück hatte er einige Materialien dafür mitgenommen. Als das Feuer entzündet war und seine angenehme Wärme verströmte, spürte Manuel tiefe Erleichterung in sich aufsteigen. So würde er hier wenigstens eine Weile bleiben können, bis der Wind wieder etwas abflachte. Es wurde jedoch immer dunkler und dunkler und der junge Mann spürte, wie Kälte und Angst in seine Knochen kroch. Leise sprach er: „Also…, wenn irgendjemand hier ist, der mir helfen könnte. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt gekommen, sich mal zu zeigen!“
Doch nichts geschah, stattdessen vernahm der 20-jährige, auf einmal das Heulen von Wölfen und zwar in unmittelbaren Nähe! Er zuckte zusammen und begann zu zittern. In der Lage, in der er sich gerade befand, kam ihm dieses Wolfsgeheul besonders unheimlich und bedrohlich vor. In ihm begann ein schrecklicher Kampf zu wüten. Sollte er hier beim Feuer bleiben oder vielleicht doch versuchen den restlichen Weg zur Hütte in Angriff zu nehmen und dort Schutz zu suchen? Wie weit war er überhaupt noch von dort entfernt? Er versuchte sich zu orientieren, doch der Nebel erschwerte das sehr.
Und dann… auf einmal, tauchten in der Dunkelheit vor ihm ein paar grünlich schimmernde Augenpaare auf. Manuel gefror das Blut in den Adern. Das waren bestimmt die Wölfe, die er vorhin gehört hatte! Er sah ihre länglichen, hochbeinigen Schatten durch die Finsternis huschen. Sie hielten sich vorerst jedoch noch ausserhalb des Lichtkreises des Feuers auf. Dabei liessen sie Manuel jedoch nicht aus den Augen. Der junge Mann blickte ihnen voller Entsetzen entgegen. Es wirkte so, als ob die Wölfe ihn als Beute betrachten würden. Schliesslich war ja tiefster Winter und die Tiere fanden kaum Nahrung. Trotzdem hielt das Feuer sie vorerst auf Abstand.
Manuel nahm einen Zweig und entzündete ihn an den Flammen. „Haut ab!“ schrie er und schwenkte den brennenden Ast hin und her. Die Wölfe zogen sich kurz zurück, doch ihr Hunger war wohl doch zu stark, denn sie näherten sich erneut und diesmal betraten einige von ihnen sogar den Lichtkreis des Feuers. Manuel schwenkte weiter den brennenden Zweig, schrie und versuchte sich grösser zu machen, indem er seine Arme hob. Die Wölfe starteten immer wieder kleine Scheinangriffe, noch jedoch, konnten sie sich nicht zu einem Angriff durchringen. Lähmende Angst und Verzweiflung erfassten den jungen Mann. Denn er wusste, irgendwann würde der schreckliche Hunger, der die Wölfe quälte, stärker sein als deren Furcht vor den Flammen.
Immer weiter umkreisten sie ihn und gaben dabei Knurr- und vereinzelte Wufflaute von sich. Es war sehr unheimlich.
Was nur sollte Manuel tun? Warum half ihm bloss keiner? Er flehte zum Göttlichen Geist, ihm doch zu helfen und dann… auf einmal kam ihm ein Gedanke! Er blickte dem, ihm am nächsten stehenden Wolf, direkt in die Augen. Dieser war besonders gross und stark. Sein Fell war vorwiegend dunkelgrau- und braun meliert. Er besass eine dunkle Gesichtsmaske die ihn irgendwie besonders unheimlich erscheinen liess und war ziemlich abgemagert.
Ebenso wie es bei den anderen Wölfe seines Rudels der Fall war. Manuel spürte, dass es sich bei ihm um den Leitwolf handeln musste und wie er es damals bei den Feuerblumen gemacht hatte, nahm er nun im Geiste Verbindung zu dem Wolf auf.
„Was wollt ihr von mir? Warum bedroht ihr mich?“ fragte er. Der besagte Wolf, hielt plötzlich inne und spitzte seine Ohren. Es schien tatsächlich, als würde er Manuel zuhören. Wie durch ein stilles Kommando, hielten nun auch die anderen Wölfe in ihren Bedrohungsgesten inne und zogen sich ein wenig zurück. Der junge Mann hörte nun ebenfalls die Stimme des Leitwolfes in seinem Inneren: „Wir haben Hunger und du bist gerade das einzige Fleisch, das wir hier in dieser Einöde finden. Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass du dich mit mir unterhalten kannst. Wer bist du? Was… bist du?“
„Ich wurde von einer höheren Macht auserwählt, um der Fürst der neuen Welt zu werden. Hier in Sibirien soll ich auf meine Aufgabe vorbereitet werden. Vieles ist gerade im Wandel und auch die Erde wird bald nicht mehr das sein, was sie einst war.“
„Auch wir merken, dass sich vieles verändert,“ gab der Wolf zurück. „Wir spüren grosse Gefahr auf uns zukommen. Unsere Beutetiere spüren das auch und darum fällt uns die Jagd gerade besonders schwer.“
„Das kann ich gut verstehen. Aber wenn ihr mich jetzt tötet, wird es noch viel schlimmer werden, denn es gibt einen Grund, warum ich zum Fürst der neuen Welt ausersehen wurde.“
Der Wolf neigte leicht seinen Kopf zur Seite und seine wilden, braungrünen Augen schienen Manuel tief in die Seele zu blicken.
„Ich sehe, dass du es gut meinst. Doch… was kannst du wirklich für uns tun? Was kannst du gegen diesen schrecklichen Hunger tun, der uns gerade quält? Wir können schon fast nicht mehr klar denken, so sehr hungern wir. Wenn du wirklich dieser… Fürst der neuen Welt bist, solltest du uns dann nicht helfen? Solltest du dann nicht allen Geschöpfen helfen, dass sie nicht mehr solche Not leiden müssen?“
„Ich gebe mein Bestes, aber wie gesagt, muss ich zuerst meine Ausbildung absolvieren. In meinem vorherigen Leben habe ich grosse magische Macht besessen. Diese muss ich aber zuerst wieder in mir erwecken. Dazu brauche ich etwas mehr Zeit und deshalb bitte ich euch um Gnade. Ich… habe gerade etwas Trockenfleisch in der Siedlung da hinten gekauft. Ihr könnt es haben, wenn ihr wollt. Und wenn ihr mich am Leben lasst, kann ich euch später noch mehr geben, wenn ich zurück in meiner Hütte bin.“
Mit diesen Worten griff Manuel langsam nach seinem Rucksack und öffnete ihn. In Turuchansk hatte er mehrere Vakuumbeutel, gefüllt mit Trockenfleisch gekauft und dieses packte er nun aus.
Die Wölfe kamen wieder etwas näher und alle scharten sich erwartungsvoll und mit verlangenden Blicken um das Feuer. Dabei waren sie jedoch stets darauf bedacht, diesem nicht zu nahe zu kommen.
„Wirf das Fleisch hier rüber!“ sprach der Leitwolf. „Ich traue euch Menschen nicht.“
„Aber ich bin doch völlig wehrlos!“ sprach der junge Mann.
„Hast du auch wirklich nirgends eine Waffe versteckt?“
„Nein, sonst hätte ich diese doch wohl schon früher hervor geholt. Immerhin habt ihr mein Leben bedroht.“
Mit diesen Worten öffnete er die Vakuumbeutel und warf die Fleischstücke rüber zu den Wölfen. Diese stürzten sich sogleich gierig darauf. Der Leitwolf wandte sich noch einmal an Manuel und sprach: „Also gut, wir lassen dich ziehen.“
„Danke, vielen Dank!“ sprach der 20- jährige. Dann nahm er seine Beine in die Hand und setzte seinen Weg mit rasend klopfendem Herzen fort.