Die Flügel sind in den 250 Millionen Jahren der Insektenevolution häufiger reduziert oder umgewandelt worden. In der Regel existieren nie mehr als vier Flügel in Form von zwei Flügelpaaren. Davon ausgenommen schien das erst 2011 entdeckte Flügelpaar der Buckelzirpen (Membracidae), die für die Gruppe typischen Helme waren laut einer Studie in Wirklichkeit ein drittes, umgeformtes Flügelpaar. Damit waren die Buckelzirpen nicht nur die ersten bekannten Insekten mit 3 Flügelpaaren, sondern auch der erste Beleg für Flügelbildung aus dem ersten Brustsegment bei Insekten.
Erkannt wurde dieser Umstand durch elektronenmikroskopische Analysen, welche die vermeintlichen Fortsätze des Außenskeletts, als für Flügel typisch an Muskeln und einer flexiblen Membran aufgehangenen Struktur identifizierten. Auf diese Beobachtung folgten Genanalysen, welche belegten, dass die Gene, die normalerweise die Flügelentwicklung steuern, auch bei der Ausbildung des Helms aktiv sind.
Doch warum bildet sich bei den anderen Insekten normalerweise kein drittes Flügelpaar?
Bei Insekten wird die Flügelbildung normalerweise durch das Hox-Gen in allen Segmenten außer dem zweiten und dritten Thoraxsegment unterdrückt, dieses Gen findet sich auch bei den Buckelzirpen, aber offensichtlich zeigt es keine Wirkung bei der Ausbildung des dritten Flügelpaars. Die Entdeckung sollte damit den Schluss ebenen, dass die Flügelbildung nicht allein über die Hox-Gene bestimmt würde, auch wenn unklar war, was die Hox-Gene in diesem Fall so wirkungslos machte.
Weitere Studien folgten auf das brisante Thema und stellten fest, dass den Forschern wohl mehrere Bestimmungsfehler und Fehlinterpretationen in der ursprünglichen Studie begangen wurden. Die vermeintliche Aufhängung für Flügel stellte sich als die Verbindung zwischen den Thorax-Segmenten T1 und T2 heraus. Auch wenn die Helmstrukturen genetische Ähnlichkeiten mit den Flügeln hatten, waren sie eben keine Flügel, sondern Fortsetzungen des Thoraxsegments. Dabei haben die Forscher der ursprünglichen Studie nicht wegen schlechter Arbeit erbracht, sondern wurden das damalige Fehlen von Datenstandards für die Morphologie von Insekten zu einer Fehlinterpretation verleitet.
Somit hat die Studie aus dem Jahre 2011 nicht zu einer neuen, revolutionären Erkenntnis im Verständnis der Insekten geführt, aber ganz unabsichtlich zu einer neuen, revolutionären Entwicklung in der Standardisierung von Datensätzen im Bereich der Insektenmorpholgie.
Oder kurz gesagt: Insekten haben nie mehr als 2 Flügelpaare.
Quellen
- Prud'homme B, Minervino C, Hocine M, Cande JD, Aouane A, Dufour HD, Kassner VA, Gompel N. Body plan innovation in treehoppers through the evolution of an extra wing-like appendage. Nature. 2011 May 5;473(7345):83-6. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21544145/ Abgerufen am 31.08.2023
- Erstes Insekt mit drei Flügelpaaren Scinexx, 9. Mai 2011 https://www.scinexx.de/news/biowissen/erstes-insekt-mit-drei-fluegelpaaren/ Abgerufen am 31.08.2023
- István Mikó, Frank Friedrich, Matthew J. Yoder, Heather M. Hines, Lewis L. Deitz, Matthew A. Bertone, Katja C. Seltmann, Matthew S. Wallace, Andrew R. Deans (2012) On dorsal prothoracic appendages in treehoppers (Hemiptera: Membracidae) and the nature of morphological evidence. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0030137 Abgerufen am 31.08.2023
- Yoshizawa, K. (2012) The treehopper’s helmet is not homologous with wings (Hemiptera: Membracidae) Systematic Entomology. 37, 2–6.